„Ötztaler Haute Route: Die Verbindung einiger der schönsten und höchsten Tiroler Gipfel und teils weiter teils steiler Gletscher zu einer der bekanntesten und anspruchsvollsten Mehrtages-Skitouren der Ostalpen, die es durchaus mit den Klassikern der Westalpen aufnehmen kann.“ (OUTDOORACTIVE.COM)
Die Sterne funkeln kalt und klar, als ich nach Mitternacht Vent erreiche und mich im Auto auf dem Parkplatz neben der Talstation des Sesselliftes in meinen Schlafsack kuschle. Am Morgen will die Dämmerung kein Ende nehmen. Irgendwann blinzle ich aus der warmen Kapuze. Aha, da liegen gut zehn Zentimeter Neuschnee auf dem Auto. Eine Stunde später schmeißt mich Peter endgültig aus der warmen Hülle. Gemeinsam wollen wir in den nächsten Tagen die originale Ötztaler Skitouren-Runde laufen. Die Wetteraussichten sind günstig, allerdings liegt die Lawinenwarnstufe aktuell bei drei, das erfordert sichere Routenwahl und zeitigen Aufbruch auf Grund der Tageserwärmung. Heute allerdings noch nicht. Mit Peters Auto fahren wir nach Obergurgl und starten, nachdem wir einen Parkplatz gefunden haben, zunächst auf der Piste, später im Gelände zur Langtalereck-Hütte, die wir am frühen Nachmittag erreichen. Scheinbar viel Platz, im Lager haben wir noch die Wahl des Schlafplatzes. Doch im Laufe des Nachmittags wird die Hütte rappelvoll, es ist Freitag und Skitouren-Saison. Im Eingangskorridor sind unsere abgestellten Ski hinter einer vielschichtigen Palisade aus Tourenski jeglicher Marken verschwunden. Rund hundert Leute teilen sich vier Toiletten. “Der frühe Vogel …” fängt hier nichts, hat aber am ehesten die Chance, stressfrei was los zu kriegen. Im Lager wird gefurzt, geschnarcht und fantasiert. Man wird es nicht mögen, aber man muss es aushalten, zumal man als Teil des Ganzen kaum unschuldig ist.
Am nächsten Morgen ist alles vergessen. Nachdem wir unsere Skier herausgewühlt haben, treten wir gegen sieben Uhr vor die Tür. Die Berggipfel leuchten im Sonnenlicht. Es sollte ein schöner Tag werden und ein anstrengender! Auf hart gefrorenem Untergrund fahren wir hinab zum Beginn der engen Schlucht, die Gletscher und Gurgler Ache gegraben haben. Hier beginnt unser Aufstieg. Unschwierig geht es durch die Schlucht und auf den Gurgler Ferner. Wir halten uns an eine zunehmend verwehte Spur, die bald nachdem wir in das Steilgelände rechts des Gletschers einsteigen, verschwindet. Hier wird es mühsam, schwierig und immer gefährlicher, je höher wir kommen. Der Untergrund ist pickelhart und die Hänge sehr steil. Nacheinander setzen wir die Harscheisen ein. Bloß nicht abrutschen. Wir sind froh, als wir die lange, ansteigende Querung endlich hinter uns haben. Steil, aber nicht so ausgesetzt, geht es über zwei Stufen weiter. Gletscherspalten umgehen wir in weitem Bogen. Und wir müssen spuren. Als wir das Schalfjoch erreichen, sind wir beide ziemlich platt. Drei junge Burschen folgen uns einige Zeit später in unserer Spur. “Wenn ihr nicht gespurt hättet, wären wir wahrscheinlich umgedreht.” Na, danke! Ansonsten kaum Tourengeher auf unserer Route. Die große Meute aus der Hütte ist offensichtlich auf Tagestour zur Hohen Wilde oder anderen Zielen unterwegs. Unsere Nachfolger wenden sich dem Gipfel des Schalfkogel zu. Von dort wollen sie zurück zur Langtalereck-Hütte. Peter und ich rüsten um auf Steigeisen und seilen vom Joch hinunter auf den Nördlichen Schalfferner. Hier erwartet uns eine lange, traumhafte und unberührte Abfahrt bis fast zum Niedertal, das von Vent heraufführt. In sommerlicher Hitze ziehen wir dort die Felle auf und beginnen den langen Aufstieg zur Similaun-Hütte. Die Martin-Busch-Hütte lassen wir rechts liegen. Zum Glück hat Peter unsere Trinkflaschen am Schalfbach aufgefüllt. Trotzdem ist es zu wenig. Dehydriert, mit Kopfschmerzen und ersten Ansätzen von Krämpfen lasse ich an der Hütte alles fallen und hole mir als erstes zwei große Gläser Johannisbeerschorle, die die Lebensgeister zurück bringen.
Obwohl die privat geführte und sehr schöne Similaun-Hütte auf über dreitausend Meter liegt, haben wir eine erholsame Nacht. In der hat sich der Himmel mit einer etwas bedrohlich wirkenden, dunklen Wolkendecke bezogen, die aber so hoch hängt, dass alle Gipfel frei liegen. Aufstieg zum Similaun über den Niederjochferner. Dort, wo der Gipfel aufsteilt, nehmen wir die Ski an die Rucksäcke und steigen weiter bis zum Beginn des felsigen Nordwestrückens. Skidepot und von dort zu Fuß die wenigen Meter bis zum Gipfel, von dem wir einen weiten Rundblick genießen. Tief unter uns der Vernagt-Stausee, da drüben das Schalfjoch, dort die Weißkugel und rechts davon die markanten Zacken der Wildspitze. Steile Abfahrt vom Gipfelhang und weiter vorbei an der Similaun-Hütte noch gute hundert Höhenmeter abwärts. Dann fellen wir auf und beginnen den Aufstieg zum Hauslabjoch. Das Gipfelkreuz der Finailspitze darüber ist noch gut zu erkennen. Als wir das Tisenjoch mit dem Obelisken für die Fundstelle des “Ötzi” erreichen, beginnt es sich zuzuziehen. Wenig später am Hauslabjoch stehen wir fast im Whiteout. Mir ist etwas mulmig, da vor uns eine unbekannte Gletscherabfahrt liegt. Vorsichtig starten wir und versuchen uns an einer kaum erkennbaren Spur zu orientieren. Zum Glück reißt der Nebelvorhang immer mal etwas auf. Trotzdem kommen wir einmal in unübersichtliches Steilgelände, wo wir an einer ganz heiklen Stelle einen Rückzug im Rückwärtsgang hinlegen. Schließlich erreichen wir das Schnalstaler Gletscherskigebiet und ziehen für die letzten Meter zur Berghütte Bella Vista nochmal die Felle auf.
Leider gibt es bei dem Wetter keine schöne Aussicht von der Bella Vista und auch für den Folgetag ist keine Besserung angesagt. So buchen wir uns für zwei Nächte ein und verbringen den Tag Zwangspause unter anderem mit einer kurzen Skitour hinauf zum Hotel Grawand und dem Genuss der anschließenden Abfahrt.
Aber dann! Kurz nach sieben Uhr am nächsten Morgen klacken die Bindungen und wir steigen auf der Piste zur Bergstation des Hintereis-Sesselliftes. Noch stecken wir in der Nebeldecke, die das Tal bis hier herauf füllt, aber über uns können wir den klaren Himmel ahnen. Oben wenden wir uns nach links und folgen dem breiten Bergrücken bis in einen Sattel, von dem schließlich Skispuren nach rechts im nebligen Nirvana verschwinden. Hier gehts also runter. Ziemlich verspurt und hart gefroren ist die Abfahrt kein Vergnügen, aber nach kurzer Zeit stehen wir auf dem gewaltigen Hintereisferner und beginnen den Aufstieg zur Weißkugel, die auf einmal in voller Schönheit vor uns steht. Im steilen Gipfelhang, dem “Eastface” wie später ein Bergführer sagt, erkennen wir Abfahrtsspuren. Na, da steigt die Vorfreude doch gleich nochmal an. Es wird eine richtige Genusstour. Nach dem Hintereisjoch setzen wir für das Matscher Wandl die Harscheisen ein. Hier oben ist es hart und abgeblasen. Dann ist es nicht mehr weit bis zum Skidepot vor dem felsigen Gipfelaufbau. Die paar Meter dahin schenken wir uns. In den Steilhang unter uns knallt mittlerweile die Sonne hinein und wir wollen kein Risiko eingehen. Umrüsten auf Abfahrtsmodus, dann geht es hinein in die Steilflanke und es wird ein cooles Vergnügen! Unten gleiten wir auf dem flacher werdenden Gletscher Tal auswärts Richtung Hochjochhospiz, das wir auf dem noch mit Schnee bedeckten Sommerweg um eine Bergflanke herum erreichen. Es folgt ein entspannter Nachmittag auf der sonnigen Terrasse mit isotonischen Getränken.
Das Wetter bleibt stabil. Es ist relativ warm, als wir am nächsten Morgen vor die Tür treten. Trotzdem war es in der Nacht kalt genug, dass die Schneeauflage hart gefroren ist. Der Aufstieg zum nächsten Gipfel, dem Fluchtkogel, beginnt sehr steil, gefolgt von einer langen Querung, die direkt unter dem Abbruch des Kesselwandferners endet. Zwei Gemsen beobachten uns aus den Steilhängen unter uns und vergrößern schließlich beneidenswert leichtfüßig den Sicherheitsabstand. Weit hat sich der Gletscher hier zurückgezogen. Vor uns ragt steiler Fels nach oben, auf dem die Eiskappe des Kesselwandferners thront. Wir wechseln auf die linke Seite und steigen in Spitzkehren auf das Gletscherplateau. Hier erreicht uns die Morgensonne. Eine kurze Rast um zu trinken und Kleidung abzulegen. Deutlich flacher zieht die Route nach rechts. Links klebt das im Winter geschlossene Brandenburger Haus über dem Gletscher am Steilhang der Ehrichspitze. Als wir uns dem Oberen Guslarjoch nähern, wird es wieder deutlich steiler. Schließlich steigen wir die breite Südflanke zum Gipfel in Spitzkehren auf. Das halb eingeschneite Gipfelkreuz wird von einer Wächte überragt, die die reguläre Höhe des Fluchtkogel von 3.500 m jetzt um einige Meter nach oben schraubt. Wir waren wieder flott unterwegs und genießen ausgiebig die Gipfelrast in der Sonne. Die Aussicht ist gewaltig. Problemlos können wir unsere Route der letzten Tage nachvollziehen. Schalfkogel, Similaun, unsere Irrwege auf dem Gletscher unterhalb der Finailspitze, das Gletscherskigebiet unterhalb der Grawand, ganz nah die Weißkugel mit dem eindrucksvollen “Eastface”. Rechts daneben am Horizont unverkennbar Piz Palü und Piz Bernina mit dem Biancograt. Weiter geht der Blick ins Kaunertaler Gletscherskigebiet und wenn wir uns weiterdrehen, ragt scheinbar zum Greifen nah das Ziel des morgigen Tages und das Finale unserer Tour vor uns auf – die Wildspitze. Jetzt folgt aber erst mal das Abfahrtsvergnügen. Wir schwingen den Gipfelhang hinab und steigern mit der Einfahrt ins Obere Guslarjoch die Steilheit noch. Später stehen wir euphorisiert weit unten auf dem Guslarferner und schauen auf die Uhr. Es ist noch nicht einmal zehn Uhr. Die Hänge um uns herum laden uns förmlich ein. Also wieder die Felle auf die Ski und über rund vierhundert Höhenmeter steigen wir auf zum Brandenburger Jöchl. Die zunehmende Hitze ist allerdings nicht mein Wetter. Während ich mich noch hinaufschleppe, steht Peter, dem das nichts ausmacht, schon munter oben. Hier bieten sich ganz neue Ausblicke auf den Kesselwandferner. Auch diese Abfahrt wird ein Traum, wir ziehen durch bis zur Vernagt-Hütte, die wir nach kurzem Gegenanstieg trotz unserer Zugabe doch schon am späten Vormittag erreichen. Der Frühjahrs-Skitouren-Modus sieht auch heute wieder einen geruhsamen Nachmittag bei besten Ausblicken in der Aprilsonne auf der Terrasse vor.
Am Abend gibt es einige Diskussionen auf der Hütte. Gegenstand ist die zur Zeit tägliche Sperrung der Strasse von und nach Vent wegen der hohen Lawinengefahr bzw. kontrolliert durchgeführten Lawinensprengungen. Für den nächsten Tag wird der Zeitraum von 8 bis 19 Uhr genannt. Da wir früh los müssen, richten wir uns auf einen langen Nachmittag in Vent ein.
Um halb Sieben am nächsten Morgen starten wir wieder als erste von der Hütte. Nahezu zeitgleich mit uns ein Bergführer mit einem Kunden. Mäßig ansteigend folgen wir der Seitenmoräne des Vernagtferners. Später fahren wir schräg ab in das Tal des Vernagtbaches und steigen steil hinauf auf den Großen Vernagtferner. Eine relativ flache Querung bringt uns hinüber an den Kleinen Vernagtferner, über dessen steilere Flanke wir hinauf an den Fuss des Brochkogeljoches steigen. Hier setzen wir die Harscheisen ein, gelangen damit aber etwa nur in die Mitte des steilen, noch eisigen Hanges. Dann kommen die Ski an die Rucksäcke und wir stapfen zu Fuss hinauf. Auf der anderen Seite sind wir im ziemlich flachen Einzugsgebiet des Taschachferners. Nach einer sonnigen Pause ziehen wir in einem langen Bogen um den Hinteren Brochkogel. Links erkennen wir die komfortable Bergstation der Wildspitzbahn auf dem Hinteren Brunnenkogel im Pitztaler Gletscherskigebiet. Und vor uns ragt die Wildspitze auf. Noch ein steiler Zustieg über den Gletscher an den Beginn des Gipfelgrates. Dort machen wir Skidepot und legen die Steigeisen an. Vor uns steigt der Bergführer mit seinem Kunden am kurzen Seil. Peter und ich klettern frei und sind nach kurzer Zeit auf dem höchsten Punkt Nordtirols, der nur wenig Platz bietet. Noch einmal genießen wir die unbeschreibliche Aussicht und freuen uns, dass Wetter und Bedingungen es uns ermöglicht haben, die Tour zu vollenden!
Der Bergführer führt ein Telefonat und wendet sich dann uns zu: “Die Strasse in Vent wird heute von 12 – 20 Uhr geschlossen.” Es ist kurz nach zehn Uhr. Schaffen wir das? Selbstverständlich nicht! Wir haben noch eine Abseilstrecke durch das Mitterkarjoch und müssen davon ausgehen, dass die steilen Hänge oberhalb von Vent aper sind und wir zu Fuss absteigen müssen. Keine Hetzerei also. In alle Ruhe steigen wir ab, machen uns abfahrbereit und gleiten hinunter ans Mitterkarjoch. Am Beginn des eingeschneiten Klettersteiges stehen vier junge Franzosen, die den Eindruck machen, sie warteten darauf absteigen zu können. Offensichtlich ist unter ihnen schon jemand in der Route. Als unsere Ski wieder am Rucksack und die Steigeisen an den Füßen sind, klettern wir hinüber. Da unten ist niemand. Die Vier haben zwar ein Seil, scheinen aber nicht damit umgehen zu können und lassen uns vor. An zwei Fixpunkten lasse ich Peter jeweils ab und seile dann ab. Was bin ich froh um mein 50-m-Halbseil! Weiter unten an den senkrechten Felswänden liegt das Stahlseil frei und so sind wir schnell auf dem steilen Mittelkarferner, den wir noch ein Stück abklettern, bevor wir die Skier wieder anschnallen. Wie spät ist es? Zehn vor halb Zwölf. Schaffen wir das? Nein, da warten ja noch die aperen Hänge. Nochmal eine tolle Abfahrt. Mit geschickter Routenwahl über einen Lawinenkegel vermeidet Peter einen Gegenanstieg. Wenig später rauschen wir schon an der Breslauer Hütte vorbei. Dann folgen ein paar sehr steile Hänge, die wir mit großem Sicherheitsabstand schnell passieren. Schon erreichen wir das bereits seit Tagen geschlossene Skigebiet von Vent. Und was soll ich sagen. Dort reicht der Schnee noch bis hinunter zum Parkplatz. Zwanzig Minuten nach dem Start schmeißen wir Skier und Rucksäcke ins Auto und uns mit Klettergurt und Skitourenschuhen in die Sitze und brausen davon. Der Schlagbaum am Ortsausgang von Vent steht noch offen. Zur vollen Stunde kommt im Radio die Verkehrsinformation: “Straße zwischen Vent und Zwieselstein wegen Lawinengefahr bis heute Abend 20 Uhr geschlossen.”