Haute Route – Skihochtour auf der berühmten Durchquerung in den Westalpen

Nachdem der Winter nicht das gehalten hat, was viele von ihm erhofft hatten, wollte ich noch einmal mit den Tourenskiern los. In gut zwei Wochen habe ich einen OP-Termin, das Skalpell ist sozusagen schon gewetzt, der Arzt meinte, ich könnte bis dahin so ziemlich alles machen … Trotzdem bin ich unschlüssig, surfe im Internet hin und her, stoße schließlich auf ein Angebot von Alpine Welten: Haute Route, noch ein Platz frei, Treffpunkt am Sonntag morgen in Herbriggen. Es ist Freitag Abend. Ich eiere noch ein bißchen rum, klicke endlich auf anmelden und bin am Samstag auf dem Weg in die Schweiz. Die Leisten werden schon halten, ich schlepp’s ja nun schon lange genug, wenn auch bisher unbewusst, mit mir herum. Zum Glück kann ich die lange Anreise ins Wallis in Burgdorf unterbrechen und für eine Nacht bei unseren Freunden Ueli und Sylvia unterschlüpfen, so dass ich am Sonntag morgen ausgeruht im Hotel Bergfreund eintreffe. Oli, unser Bergführer, nimmt mich in Empfang und informiert mich gleich über Plan B, den wir wegen des Wetters heute ziehen müssen. Fast ein halber Meter Neuschnee und Sturmböen in Chamonix. Die Bergbahnen fahren nicht. Somit fällt die erste Etappe über die Argentiere-Hütte flach. Der Plan ist, im Skigebiet Saas Fe aufzufahren, zur Britannia-Hütte zu laufen und morgen das Strahlhorn (4.190 m) zu versuchen. Einstieg in die Tour einen Tag später ab Bourg Saint Pierre. Auch gut, Hauptsache wir unternehmen was! Hier in den Westalpen ist eh alles Neuland für mich. Bei der Abfahrt nach Saas Fe lerne ich die anderen Teilnehmer kennen. Medizinisch sind wir in den besten Händen, Anne und Elke sind beide Ärztinnen, dazu kommen noch Lars aus München und Peter aus Stuttgart.

DIE WAHL DER WAFFEN

Das Wetter hier ist auch alles andere als optimal. Bei der Seilbahnfahrt von Saas Fe zur Station Felskinn sehen wir Nebel bedingt fast nichts. Oben auf 3.000 m Höhe ist es erstaunlich warm. Gemütlich schlurfen wir hinüber zur Britannia-Hütte, wo wir den langen Nachmittag dazu nutzen, uns kennenzulernen. Am Abend ist die geräumige Hütte geknackt voll – Skitouren-Saison!
Frühstück um 5.30 Uhr. Gespannter Blick nach draußen – Sternenhimmel. Juhu! Als wir eine dreiviertel Stunde später aus der Hütte treten, ist die Luft kalt und klar. Zum ersten Mal genieße ich den Blick auf die Bergwelt. Rechts dominieren Allalin (4.027 m) und Rimpfischhorn (4.199 m). Das Strahlhorn sieht so nah aus. Ausrüstungs- und LVS-Check, dann fahren wir die achtzig Höhenmeter hinunter auf den Hohlaubgletscher, wo wir Auffellen. Einige sind bereits unterwegs, vor uns liegt eine gute Spur. Wir sortieren uns hinter Oli und beginnen mit dem Aufstieg. Zu Hause beim Packen habe ich lange überlegt, ob ich die schwere Spiegelreflex-Kamera mitnehme. Jetzt bin ich froh, dass sie an meinem Hals baumelt, auch wenn es öfter ganz schön nervt. Spätestens wenn ich schöne Fotos anschauen kann, ist alles vergessen. Und die Auswahl der Motive überwältigt mich fast. Bevor die Sonne aufgeht, wirken die Berge immer imposant und unnahbar auf mich. Wenn dann die ersten Sonnenstrahlen an den Gipfeln herab gleiten, werden sie irgendwie freundlicher und scheinbar zugänglicher. Auch jetzt nimmt mich das Schauspiel in den Bann, immer wieder bleibe ich stehen und hebe den Fotoapparat. Voraus die golden glänzenden Gipfel und hinter uns das mit einem Wolkenmeer gefüllte Tal. Unser Tempo ist gemächlich. Die Höhenanpassung ist nicht bei allen gleich und Oli will niemand überfordern. Als wir die Licht-Schatten-Grenze erreichen, wird es deutlich wärmer. Wir pausieren und legen Kleidung ab. Dann geht es über gestuftes Gelände weiter. Inzwischen steigen wir auf dem Allalingletscher. Das Profil führt im Wechsel mit steileren Rampen und flacheren Abschnitten stetig bergan. Steil werden die letzten hundert Höhenmeter bis kurz vor den Adlerpass. Ab hier geht es in den noch steileren, jetzt mit hartem, windverblasenen Schnee bedeckten Gipfelaufbau. Während wir die Harscheisen einsetzen, fragt Oli das Befinden ab. Bei Peter und Anne macht sich die Höhe bemerkbar. Dazu kommt, dass sich Peter mit zwei schweren, breiten Powderlatten mit Rahmenbindung plagt. Alle wollen weiter. Konzentriert steigen wir in den Hang ein. Jetzt sind auf Grund der Steilheit Spitzkehren gefragt. Oli als Erster steigt betont langsam, trotzdem wird der Abstand zu Peter als Zweitem immer größer. Mitten im Steilhang bei einer Kickkehre geht es bei Peter nicht mehr weiter. Zu allem Überfluss löst sich noch ein Fell von seinem Ski. Oli steigt zurück: “Peter, mal ehrlich. Du bist doch am Limit?” Ohne Umschweife kommt das “Ja!”. Innerlich knirsche ich mit den Zähnen und werfe einen sehnsüchtigen Blick Richtung greifbar naher Gipfel, denn ich weiß, was jetzt kommt. Abbruch! Kein Bergführer kann einen Teilnehmer allein lassen. An Ort und Stelle fellen wir ab und gehen in den Abfahrtsmodus. Ruppig rutschen wir zurück zum Adlerpass, wo wir einen phantastischen Ausblick zu Breithorn, Matterhorn und Co. genießen. Die folgende Traumabfahrt in unberührtem zwanzig Zentimeter tiefem Pulverschnee lässt den verpassten Gipfel schnell vergessen. Entspannt schwingen wir zu Tal, jeder hat genügend Platz seine Kurven zu ziehen. Herrlich! Auf dem kurzen Gegenanstieg zur Britannia-Hütte bleibt Peter fast zwanzig Minuten zurück. Die Kombination aus Höhe und zu schwerem Ski fordert deutlich ihren Tribut. Die Wahl der Waffen eben!
Nach der Kaffeepause in der Britanniahütte folgen noch mehr als zwölfhundert Höhenmeter Abfahrt durch das seit heute geschlossene Skigebiet hinunter nach Saas Fe. Noch am späten Nachmittag setzen wir mit den Autos um nach Bourg Saint Pierre. Allerdings ohne Peter, der leider, aber nach der Erfahrung des heutigen Tages vernünftigerweise, aussteigt. Obwohl wir erst zwei Tage zusammen sind, finde ich, dass sich unser Team optimal zusammensetzt. Peter mit seiner offenen, herzlichen Art hat da super hineingepasst. Schade!

ZUR CABANE DE VALSOREY

Nach einer standesgemäßen Übernachtung im Bivouac de Napoleon in Bourg Saint Pierre liegen heute rund 1.400 Höhenmeter Aufstieg vor uns. Gestern Abend und in der Nacht hat es ordentlich geschneit. Jetzt verspricht der klare Himmel einen schönen Tag. Der frühe Aufbruch ist obligatorisch, da die Strecke mit zunehmender Tageserwärmung lawinengefährdet ist. Ein Stück bringt uns das Hotel-Taxi aus dem Ort hinauf ins Valsorey, wo wir auf dünner Schneedecke die Skier anlegen können und unseren Aufstieg auf dem Sommerweg beginnen. Tief hat sich das Tal eingeschnitten, wir bleiben am linken Hang, wo der Weg immer enger und steiniger wird. Schließlich müssen die Skier an den Rucksack und wir marschieren zu Fuß durch Schnee und Matsch weiter. An steileren Stellen rinnt das Schmelzwasser wie ein kleiner Gebirgsbach den Pfad herunter. Wir passieren einige Alpgebäude, bis wir den Bach queren und wieder auf die Skier umsteigen können. Weit oben am rechten Hang sehen wir die futuristisch gestaltete Velan-Hütte. Noch einige Höhenmeter geht es über Stock und Stein, bis das Tal sich öffnet und das Fortkommen leichter wird. Ab hier laufen wir in der Sonne. Vor uns liegt der Mont Velan (3.727 m), links die Schlucht, durch die der Valsorey-Bach herunter kommt. Wir queren den Talgrund. Rast vor dem Steilhang. Anne versorgt ihre Füße vorsichtshalber mit Blasenpflaster. Gewaltig erhebt sich links von uns der Grand Combin (4.314 m). Mitten in seinem Steilhang liegt die Valsorey-Hütte, unser Ziel für heute. Viel weiter oben erkennen wir die Querung aus dem 45 Grad steilen Hang hinüber zum Plateau du Coulouir. Das wird morgen die Schlüsselstelle. In weiten Spitzkehren führt uns Oli nach oben, bis wir links haltend zwei Moränenrücken überqueren und nach einer kurzen Schrägfahrt auf den unteren Valsorey-Gletscher und einer weiteren Rast den steilen Schlussanstieg beginnen. Eigentlich sind wir als Erste im unberührten Neuschnee unterwegs. Allerdings zieht sich den Steilhang bereits ein von oben bis unten sauber und gleichmäßig geschwungenes Muster herunter, mehrfach unterbrochen nur von einer kreuzenden Aufstiegsspur. Da hat wohl jemand von der Hütte Frühsport gemacht. Wir folgen den Spitzkehren die rund fünfhundert Höhenmeter hinauf zur Cabane de Valsorey. Von den beiden Frauen, die die Hütte bewirtschaften, hat sich tatsächlich eine heute morgen den Hang hinunter gestürzt. Alle Achtung! Wir ziehen ein und genießen den sonnigen Nachmittag in diesem Adlernest mit herrlichen Ausblicken bis zum so nah scheinenden Mont Blanc.
Abends ist Teambesprechung. Laut Wettervorhersage bleibt es die nächsten beiden Tage schön. Das reicht uns nicht für die letzte und schönste Etappe am Matterhorn vorbei nach Zermatt. Es sei denn … Sachlich erläutert Oli die Alternativen. Mit dem Ergebnis, dass wir einmütig beschließen, morgen eine Doppeletappe zu laufen!

YOU NEVER WALK ALONE

Kurz vor dem Aufbruch am nächsten Morgen werden wir Zeuge eines Naturschauspiels, dass bei mir noch lange nachwirkt. Mitten in der zauberhaften Lichtstimmung unmittelbar vor Sonnenaufgang scheint es, als ob ein goldener Pinselstrich den Mont Blanc heruntergleitet. Leuchtend thront der höchste Berg der Alpen für kurze Zeit über seinen Trabanten, bis auch sie die Sonne erreicht.
Auf unserer Seite trennen uns noch sechshundert steile Höhenmeter von den wärmenden Strahlen der Sonne. Wir starten mit Harscheisen in den Bindungen und kickkehren nach oben. Irgendwann wird es zu steil, die Skier kommen an den Rucksack. Beim Anlegen der Steigeisen rutscht mir eines davon. Zum Glück nur einige Meter. Peinlich! Bevor ich es holen kann, ist Oli schon auf dem Weg. Jetzt bin ich in seiner Schuld. Seine Währung heißt Cola 🙂 . Den Eispickel auf der Bergseite führend und meist auf den Frontalzacken steigen wir auf. Die Querung hinüber auf das sonnenüberflutete Plateau de Coulouir ist bei den Bedingungen unproblematisch. Aber der Blick auf den mehr als 1.200 Höhenmeter tiefer liegenden Valsorey-Gletscher ist schon beeindruckend. You never walk alone! Der legendäre Schlachtruf der Liverpooler Fußballfans scheint auch hier zu gelten. Hinter uns zieht sich eine lose Perlenkette von Bergsteigern herauf. Es folgen eine relativ kurze, aber steile Abfahrt über einen harten, zerfahrenen Hang und ein Gegenanstieg zum Col du Sonadon, den wir wieder mit Fellen bewältigen. Die folgende Abfahrt wird ein langer Genuss. Oberhalb eines gewaltigen Gletscherbruchs gleiten wir weit nach rechts und schwingen dann die nahezu unberührten Hänge entspannt nach unten. Weiter Rundblick beim Aufziehen der Steigfelle. Im Nordosten entdecken wir die Cabane de Chanrion, eigentlich das Ziel der heutigen Etappe. Wir folgen der moderaten Steigung am rechten Hang und haben dann wieder eine herrliche Abfahrt in den Talgrund. Lange Pause in der Hitze der Mittagssonne. Linker Hand wäre über einen relativ kurzen Zustieg die Chanrion-Hütte zu erreichen. Wir aber halten uns gestärkt und mit einer frisch aufgetragenen Schicht Sonnencreme rechts in eine enge Schlucht, aus der der Abfluss des Otemma-Gletscher strömt. Drinnen entdecken wir einige Gemsen, die uns in sicherer Höhe in der linken Felswand von ihren Kletterkünsten überzeugen. Es wird ein langer Nachmittag. Das Tal weitet sich, bald erreichen wir den Gletscher, der kein Ende nehmen will. Wir pausieren mehrfach, auch Oli versorgt seine Füße mit Blasenpflaster. Der breite Col de Charmotane, das obere Ende des Gletschers, ist wie eine Fata Morgana und will einfach nicht näher kommen. Als wir ihn endlich erreichen, folgt noch der schräge Anstieg zum Col de Vignette, den wir auf Grund der Lawinengefahr in Entlastungsabständen begehen. Das kurze Stück zur Cabane de Vignette können wir schon fast wieder genießen. Hinter der nahen Bergkette im Osten lugt doch tatsächlich die Spitze des Matterhorn hervor. Wenn das Wetter hält, wird es morgen gewaltig!

LA GRANDE FINALE

Der gespannte Blick am nächsten Morgen aus dem Fenster bringt Gewissheit: Das Wetter hat gehalten, alles richtig gemacht. Ich bin voller Vorfreude auf die Königsetappe. Wir starten hinüber zum Col de Vignette und fahren über den vereisten Hang mit den Lawinenstrichen hinunter zum Col de Charmotane. Während wir dort die Steigfelle aufziehen, leuchten die Berge im Osten im Morgenrot. Wir queren auf der heute ganz realen Fata Morgana von gestern nach Südosten und ziehen dort in weiten Spitzkehren hinauf zum Col de l’Evêque. Der Blick zurück zeigt die spektakuläre Lage der Cabane de Vignette. Es folgt eine schöne Abfahrt auf den Haut Glacier d’Arolla. In Sichtweite des Bouqetin-Biwaks treffen wir beim Auffellen auf eine Dreiergruppe. Kommunikationsfreudig stellt einer sich und seine Kameraden vor: “I’m from the United States, he is from the UK. And the third one? I don’t know. We found him on the glacier.” Unter den steilen Nordhängen des Mont Brule steigen wir gemächlich nach Osten bis an den Fuß des Col du Mont Brule auf. Das Steilstück überwinden wir mit Pickel und Steigeisen. Oben tut sich wieder ein phantastischer Ausblick auf. Neben uns knien sich drei Tourengeher zum Fotografieren vor die Kulisse des Matterhorns, bis Elke sie darauf aufmerksam macht, dass das noch nicht das Matterhorn ist. Der Berg macht es aber auch spannend. In der Abfahrt vom Pass versuchen wir viel Schwung in das Flachstück mitzunehmen, denn danach kommt noch ein langer Anstieg zum Col de Valpelline. Mit einer Pause sind wir kurz nach Mittag oben. Endlich! Da steht es, das Matterhorn. Dahinter am Horizont reihen sich die Viertausender nebeneinander; Oli benennt sie uns von links nach rechts. Wir rasten ausgiebig in der Sonne, fotografieren, genießen! Wenn es noch eine Steigerung gibt, folgt sie jetzt: Die lange Abfahrt hinunter nach Zermatt über fast 1.900 Höhenmeter: Steile Hänge, gewaltige Gletscherspalten, drohende Eisbrüche, das Matterhorn immer greifbar zu unserer Rechten – es ist ein Traum! Euphorisiert und zufrieden klingt unsere Tour auf der sonnigen Terrasse eines Restaurants direkt neben der Piste aus. Danke ans Team, danke an Oli! Top-Bergführer! Jederzeit wieder.