Lappland – In der letzten Wildnis Europas

Eine staubige Schotterpiste zieht ihr graues Band durch die felsige Landschaft. Wenige Zentimeter vor unseren Köpfen pendelt der Scheibenwischer durch den zähen Nieselregen. Windböen fallen über das Auto her, rütteln an dem fünf Meter langen Kanu auf dem Dach. Dort, wo der Sturm die niedrige Wolkendecke aufreißt, wachsen unvermittelt vergletscherte Berge aus den aufgewühlten Seen. Es ist Mitte August und wir befinden uns etwa hundertfünfzig Kilometer nördlich des Polarkreises in Schwedisch-Lappland unweit der norwegischen Grenze. Hier liegen die drei Nationalparks Sarek, Padjelanta und Stora Sjöfallet, die als die letzte Wildnis Europas gelten.

Mit der Nachtfähre sind wir von Kiel nach Göteborg übergesetzt. Auf der Reichsstrasse 45, dem so genannten Lappland Highway, rollen wir nach Norden. Schnell entsteht der erste Kontrast für den mitteleuropäischen Autofahrer – stressfreies Autofahren. Wenige Fahrzeuge, kein Rasen, kein Drängeln – ein Gefühl, das sich verstärkt, je weiter wir nach Norden kommen. Die Entfernungen zwischen den Ortschaften werden immer größer, der wachsame Blick auf die Tankanzeige immer notwendiger. Überhaupt nicht autoscheu präsentieren sich die ersten wildlebenden Rentiere, die ganz ungeniert die Strasse zum besseren Fortkommen benutzten.

Weit im Norden zweigen zwei Straßen vom Lappland Highway ab und führen in diese letzte Wildnis: Im Süden endet die hundertfünfzehn Kilometer lange Sackgasse bei der Ortschaft Kvikkjokk, nördlich von Porjus kann man entlang der riesigen Seen Stora Lulevatten und Akkajaure über einhundertsechzig Kilometer bis zur einsamen Sitasjaurestugorna am Abfluss des Sitasjaure fahren. Hier ist für uns “end of the road”. Unbewacht und ungefährdet bleibt das Auto die nächsten Wochen hier stehen.

Der sonnige Morgen des folgenden Tages gibt den Blick frei auf eine grandiose Landschaft. Das spiegelglatte Wasser des Sees ist umgeben von mehr als eintausendfünfhundert Meter hohen, weiß bemützten Bergen. Kanu zu Wasser lassen, beladen und über das unberührte Wasser gleichsam davon zu fliegen ist eine Sache weniger Augenblicke. Unser Ziel ist das vierzig Kilometer entfernte norwegische Ufer des Sitasjaure. Doch wir sollten es nicht erreichen.

Ein Nordwest-Sturm zwingt uns für einige Tage an Land, die Wellen auf dem See sind meterhoch. Die Temperatur fällt und die Schneegrenze sinkt auf unter neunhundert Meter. In unserem kleinen Camp aus Bergzelt, Windschutz und Feuerstelle haben wir keine Langeweile. Wir wandern hinauf in die Berge zu den Schneefeldern, genießen die unermessliche Weite dieser baumlosen Landschaft und die abendlichen Schwarzer-Peter-Spiele im Zelt.

Wieder zurück an der Sitasjaurestugorna schnallen wir das Kanu auf das Autodach, packen die Rucksäcke und wandern einige Tage auf dem Padjelantaleden nach Norden. Sarah (vier Jahre) läuft dabei in ihren Gummistiefelchen bis zu fünfzehn Kilometer am Tag. Wir können es selbst kaum glauben. Allerdings haben wir uns mit dem Proviant verschätzt. Auf dem Rückweg müssen wir drastisch rationieren und träumen derweil von zukünftigen Fressorgien “wenn wir wieder bei den Menschen sind”, wie Sarah sagt.

Im zweiten Teil der Reise paddeln wir von Kvikkjokk den Tarraätno weit stromauf. Hier dominiert üppiger Nadelwald. Wir beobachten eine Elchkuh mit ihrem Jungen beim Baden und verfolgen den erfolglosen Angriff eines Adlers auf einen Schwarm Enten. Nach einigen Tagen drehen wir das Kanu um, paddeln den Fluss hinunter bis hinaus auf den riesigen See Saggat, wo wir auf einer Insel für mehrere Tage unser Lager aufschlagen. Sicherlich hat sie einen Namen, aber weil wir hier Unmengen Heidelbeeren finden, nennen wir sie Blaubeer-Insel und backen uns am Lagerfeuer mit Beeren gefüllte Brötchen.

Inzwischen hat der Herbst mit seinen Farben die Herrschaft übernommen. Die Hänge des Sarek sind bis weit in die Täler weiß und in der Nacht beißt uns der Frost in die Nasen. Unsere Zeit hier oben neigt sich dem Ende entgegen – für diesmal.