Tatshenshini River

“Most rivers begin in the cold, steep mountains and work their way down to the warmer lowlands. The Tatshenshini’s beginnings are in the warm, sunny, forested, rolling-hill country … and ends with cold water, icebergs and glaciers…“ (Aus „The complete guide to the Tatshenshini River“)

Gestrandet

Es ist stockdunkel in der fensterlosen, einfachen Schutzhütte, deren einziges Mobiliar aus einer rundum laufenden hölzernen Ablage besteht, auf der wir unsere Ausrüstung und uns zum Schlafen verteilt haben. Das unregelmäßige Platschen der aus unseren aufgehängten Paddelklamotten und Schwimmwesten zum Boden schwebenden Wassertropfen wird übertönt vom Prasseln des Dauerregens auf das Hüttendach. Dazwischen dringt dumpf das Rauschen der Brandung von der Pazifikküste herüber. Dry Bay heißt diese Gegend, sie ist alles, nur nicht trocken. Seit gestern vormittag, als wir, die Kanus im flachen Wasser gegen die Strömung hinter uns her ziehend, hier ankamen, stürmt und regnet es ununterbrochen. Nur wenige Schritte entfernt zieht sich eine breite Schneise durch den Wald, ein holpriger Start- und Landestreifen, auf dem gestern nachmittag die Bush Hawk landen sollte, die uns zurück nach Haines bringen sollte. Es ist niemand gekommen.

Rückblick:

Drei Wochen zuvor sind wir in Whitehorse, der Hauptstadt des kanadischen Yukon Territoriums, gelandet. Wir, das sind Peter aus Österreich, Petra und ich. Vor uns liegt eine Expedition auf einem der faszinierendsten Flusssysteme der Erde, dem Tatshenshini und dem Alsek River. Es bedarf etwas Glück und Geduld, um überhaupt dorthin zu dürfen. Die Flüsse liegen in vier aneinander grenzenden Nationalparks Kanadas bzw. Alaskas und der Zugang zu ihnen ist nur mit Permits möglich, die streng limitiert und reglementiert jährlich in einem Lotterie ähnlichen Verfahren verlost werden. Peter hat die ganze “Paperwork” mit den zuständigen Behörden auf sich genommen und tatsächlich haben wir das begehrte Permit für unsere kleine Gruppe bekommen.
Die nächste Herausforderung ist die Logistik. Die Tour beginnt im Yukon und endet in der Wildnis an der Südostküste Alaskas. Die amerikanischen Einreisebestimmungen sehen vor, dass man den Grenzübertritt in die USA vor Tourbeginn vollziehen muss. Ein Mietwagen gibt uns die hierfür notwendige Mobilität und darüber hinaus die Möglichkeit, den Rahmen der eigentlichen Tour interessant zu gestalten.

Bergwandern im Kluane Nationalpark

Wir starten am Discovery Day – Feiertag im Yukon. Zum Glück hat der Superstore geöffnet und wir haben ihn als Frühaufsteher, bedingt durch die Zeitverschiebung von neun Stunden, fast für uns allein. Nachdem die Proviantliste abgehakt ist, verlassen wir Whitehorse auf dem Alaska-Highway Richtung Westen. Zwei Stunden später ein kurzer Stopp im neuen Kluane National Park Visitor Centre von Haines Junction. Großzügige Räume, noch ist nicht alles eingerichtet, aber der neue Film über den Kluane National Park weckt die Vorfreude auf mehr. Noch knapp dreißig Kilometer weiter Richtung Süden auf dem Haines Highway, dann schlagen wir für die nächsten beiden Nächte unsere Zelte bei der Kathleen Lake Lodge auf. Zwei Jahre zuvor auf dem Weg zum Top of the World Highway war Petra und mir hier nur ein kurzer Blick auf die Berge vergönnt. Nur zu oft verstecken sie ihre Gipfel in den Wolken. Ganz anders diesmal. Bei kaltem, klaren Wetter schnüren wir am nächsten Morgen unsere Wanderstiefel und machen uns an die Besteigung des King’s Throne, dessen Gipfel rund 1.200 Meter über dem Kathleen Lake liegt. Während des steilen, teilweise ausgesetzt über einen scharfen Grat führenden Aufstiegs genießen wir eine grandiose Weitsicht. Unsere Tour endet kurz vor dem Gipfel, von dem aufziehende Wolken inzwischen Besitz ergriffen haben. Wir schenken uns die letzten Meter.

Wildwasser auf dem Blanchard River und dem oberen Tatshenshini River

Am nächsten Tag nehmen wir die rund zweihundert Kilometer nach Haines in Alaska unter die Räder. Auch wenn die Bergspitzen wieder in den Wolken hängen, bieten sich unterwegs schöne Ausblicke in das Tal des Tatshenshini River, an den Million Dollar Falls und auf die umgebende Gebirgskulisse. Erst als nach dem Chilkat Pass (1.065 m) die steile Abfahrt zur Küste beginnt, tauchen wir ein in das feuchte Klima des Regenwaldes und der allgegenwärtige Niederschlag nimmt uns die Aussicht. Der Grenzübertritt nach Alaska verläuft problemlos, auch wenn Officer Hayes die Autorität eines Schuldirektors der Kaiserzeit ausstrahlt. Als wir zwei Tage später wieder zurück fahren, ist er viel freundlicher, scherzt, gibt jedem die Hand und wünscht uns einen “safe trip”. Mit an Bord ist diesmal Stan Boor von Alaska River Outfitters. Er wird unseren Mietwagen wieder zurück nach Haines bringen. Stan ist ein äußerst erfahrener Mann, der den Tatshenshini als Raftguide bereits dutzende Male befahren hat. Von ihm erfahren wir, dass der Wasserstand des Flusses auf Grund des Regen reichen Sommers höher ist als sonst um diese Jahreszeit. Das hebt die eh vorhandene Spannung weiter an, da der Wildwasser-Abschnitt im Tatshenshini-Canyon schon bei moderaten Wasserständen mit Schwierigkeiten bis zu III+ angegeben wird.
Gleich hinter der Grenze zwischen British Columbia und dem Yukon befindet sich ein Camp von Tatshenshini Expeditions am Haines Highway. Ab hier startet das Outdoor-Unternehmen Tagestrips für Touristen in großen Schlauchbooten auf dem Blanchard River, der nach zehn Kilometern in den Tatshenshini mündet, bis Dalton Post, der offiziellen Einsatzstelle für die eigentliche Flusstour. Wenn wir schon mal hier sind, wollen wir die vierunddreißig Kilometer lange Strecke, die als zum Teil wuchtiges Wildwasser bis Stufe IV beschrieben wird, auch befahren. Allerdings mit leeren Booten. So bringen wir zunächst unsere Ausrüstung hinunter nach Dalton Post. Ende des 19. Jahrhunderts befand sich hier der Handelsposten von Jack Dalton. Übrig davon ist nur noch eine verfallene Blockhütte mitten im Busch. Unser Gepäck deponieren wir in einem alten Schulbus mit Hänger, mit dem die Raftguides von Tatshenshini Expeditions ihre Gäste und die Schlauchboote wieder zurück bringen. Knapp zwei Stunden später liegen Peter’s Outside und unser Ally startbereit am Ufer des Blanchard River. Stan ist schon wieder auf dem Rückweg nach Haines, nicht ohne vorher interessiert und anerkennend den Aufbau des Faltkanadiers zu beobachten. Durchaus mit Herzklopfen machen wir uns an die uns unbekannte Strecke. Es wird ein herrlicher Wildwasserspass in einer traumhaften Landschaft. Beginnt es zunächst noch recht steinig und verblockt, geht es später wuchtiger auf dem Tatshenshini weiter. Nahezu ununterbrochen folgt eine Stromschnelle der anderen. Voller Euphorie erreichen wir am Abend Dalton Post. Unser Abendessen kochen wir im Bus. Anschließend stellt Peter sein Tunnelzelt auf, während wir es uns einfach machen und unsere Isomatten und Schlafsäcke im hinteren Teil des Busses ausbreiten.

Adrenalin im Tatshenshini Canyon

Gleich am ersten Tag mit vollem Gepäck erwartet uns der schwierigste Abschnitt der Tour. Zunächst pendelt die flotte Strömung von einer Außenkurve zur anderen. Am rechten Ufer taucht ein großer, brauner Grizzly auf und sucht sofort das Weite, als er uns bemerkt. Berge und Wald haben sich mit einem Schleier aus zähem Dauerregen verhüllt. Bald leuchten die senkrechten Felswände der Orange Cliffs aus dem monochromen Grau, hier beginnt der Canyon. Wir stoppen und gehen die skizzierten Beschreibungen der Mayor Rapids noch mal durch. Regungslos beobachtet uns ein Weißkopfseeadler von seinem luftigen Ansitz auf der anderen Flussseite. Noch ein kurzer Check, ob alles sitzt. Okay, wir können starten. Gefälle und Verblockung nehmen rasch zu. Immer wieder machen wir lange Hälse, um die sichere Linie so bald als möglich zu erkennen. Die größte Gefahr geht von knapp überspülten Steinhindernissen aus, die bei der Geschwindigkeit und der Farbe des Flusswassers oft spät erkannt werden und schnelle Reaktion erfordern. Mit der bewährten Technik (“Speed is your friend”, “Crossing the grain”) können wir alles auf Sicht fahren. Einzig vor “Thread the Needle” schwenken wir zum Scouten ins Kehrwasser. Peter lässt seinen Outside am rechten Rand am Seil hinunter. Wir fädeln uns zwischen den zwei Felsblöcken in der Strommitte ein, geradewegs in die stufig abfallenden stehenden Wellen, Walzen und Löcher. Brav reagiert unser Ally auf jeden Korrekturschlag und bringt uns sicher nach unten. Spannend geht es weiter. Das ist eine Traumstrecke in einer Traumlandschaft. Bald haben wir mit “M & M Falls” auch die letzte große Schwierigkeit gemeistert. Die konzentrierte Anspannung löst sich und weicht der Freude über das gerade Erlebte. Entspannt treiben wir bis zur Mündung des Squaw Creek. Direkt oberhalb davon lockt uns ein idealer Lagerplatz, unsere Adresse für die folgenden beiden Nächte. Am nächsten Tag wird bei schönstem Wetter gekocht, gebacken, ein Vorrat an Feuerholz angelegt und im eiskalten Fluss gebadet.

Wilder Fluss, wildes Land

Die Etappe zur Mündung des Sediments Creek beginnt sonnig. Vor uns tauchen die vergletscherten Gipfel der Alsek Range auf. Petra entdeckt einen Luchs am linken Flussufer. Wenig später gleiten wir durch den malerischen Stillwater Canyon. Allmählich kommt Gegenwind auf, während die Strömung nachlässt. Der Detour Creek spült viel Silt in den Tatshenshini und färbt den Fluss gletschergrau ein. Der Wind steigert sich zu Sturmböen, die uns in ungeschützten Passagen fast wieder stromauf blasen. Wir schrecken drei Trompeter Schwäne auf. Selbst sie scheinen in der Luft zu stehen, als sie nach eiligem Start die Höhe der Baumwipfel erreicht haben und dort vom Gegenwind getroffen werden. Für uns wird es noch ein hartes Stück Arbeit. Die Köpfe eingezogen, die Paddel über Wasser gegen den Sturm immer wieder auf’s Neue nach vorn drückend, erreichen wir unser Ziel am späten Nachmittag im Sturzregen. Boote an Land ziehen, sichern, entladen, Zelte aufbauen – alles in Wind und Regen. Später sitzen wir endlich am warmen Ofen, trinken Kaffee und schlürfen heiße Brühe mit Brot, während die Zeltspitze im Sturm tanzt.
Von vornherein war es unser Plan, genügend Zeit mitzubringen, um trotz des unberechenbaren Klimas die Chance zu haben, die einzigartige Landschaft in diesem Teil der Erde auch erleben zu können. Das zahlt sich jetzt aus. Nahezu ohne Unterbrechung regnet es bis zum nächsten Abend durch. Ein Tag zum Aussitzen. Aber dann …
Blauer Himmel, die Bergkämme mit frischem Weiß überzogen, so begrüßt uns der folgende Morgen. Wir stehen vor den Zelten und Peter erklärt uns: “… da oben, über der Baumgrenze da können wir dann frei auf den Almwiesen gehen.” Zu Zweit machen wir uns an den Sediment Creek Hike, Petra war etwas erkältet in den letzten Tagen und fühlt sich noch nicht wohl genug. Flach über das weite, trockene Delta des Baches, durch einen wunderschönen Wald bald steil nach oben, erreichen wir die Baumgrenze. Das freie Gehen über alpine Matten im Sonnenschein wird ein schweißtreibender Kampf mit mannshohem Buschwerk bis fast hinauf in die Kammregion. So kann sich selbst ein Zillertaler täuschen. Aber die Plackerei lohnt sich. Endlich legt sich der Hang zurück und führt sanft ansteigend durch ein gesprenkeltes Muster aus grüner Flora und tauenden weißen Schneeflecken hinauf auf einen breiten Kamm. Die Aussicht ist gewaltig. Wieder einmal werden uns die Dimensionen dieser riesigen Wildnis bewusst. Zu Beginn des Abstieges entdecken wir eine frische Bärenspur. Erst beim zweiten Blick sehen wir die kleineren Tatzenabdrücke daneben. Grizzly-Mama auf Ausflug mit dem Nachwuchs. Jetzt aber nichts wie weg hier. Obwohl wir genügend Geräusch machen, ist uns beim langen Abstieg durch den dichten Busch etwas mulmig.
Auf eine frostige Nacht folgt neuer Zauber mit Sonnenstrahlen auf Raureif, aufsteigendem Morgennebel und einer in die klare Luft gemeißelten Bergkulisse. Nach dem Ablegen genießen wir es, uns auf schnell fließendem Wasser entspannt treiben zu lassen . Das ändert sich schlagartig, als der Alkie Creek in den Tatshenshini mündet. Dessen starke Strömung schießt quer über den Fluss und prallt links auf eine Felswand. Es entstehen Verwirbelungen, Querströmungen, Pilze, stehende Wellen und Löcher und wir müssen höllisch aufpassen. Das Gefälle und die Schwierigkeiten nehmen wieder zu und finden ihren Höhepunkt im Monkey Wrench Rapid. Wuchtiges Wasser, alle Steinhindernisse sind überspült. Zum Teil mächtige Wellen und tiefe Löcher. Wir kreuzen zwei Mal diagonal die Strömung, um den dicksten Dingern auszuweichen.
Es bedarf einiger Mühen, um unseren Lagerplatz unterhalb des breiten Mündungsdeltas des O’Connor Rivers einzurichten. Aber er liegt geschützt vor dem aufgekommenen Wind auf einer schönen Wiese. Am Ausblick auf die vergletscherte Alsek Range können wir uns kaum satt sehen.
Der Flussabschnitt, der uns am nächsten Tag erwartet, trägt den verheißungsvollen Namen “Tunnel of Wind”. Der pfeift uns schon um die Ohren, als wir auf den D-Zug Tatshenshini aufsteigen. Der Fluss verteilt sich immer wieder in mehrere Arme und es ist schwierig, bei dieser Geschwindigkeit und dem eineinhalb Kilometer breiten Flussbett, die Kanäle mit der besten Wasserführung zu entdecken und miteinander zu verbinden. Peter kommt deutlich langsamer vorwärts und es gibt so gut wie keine Haltestellen an der Strecke, wo wir auf ihn warten könnten. Das erste Mal klappt es kurz vor der Mündung des Henshi Creek, wo es uns gelingt, an einer Kiesbank zu stoppen. Selbst das ist eine Herausforderung, die Strömung reißt hier alles mit und die sich ständig verändernden Kiesbänke fallen unter Wasser senkrecht ab. Ein Schritt zu früh aus dem Kanu und man nimmt ein kaltes Bad. Später spült der Tat Creek seine Wasser von rechts in den Fluss, linker Hand zieht sich eine riesige Cutbank mehrere hundert Meter den Fluss hinunter. Dergleichen haben wir noch nie gesehen. Unterhalb des Towagh Creek gibt es zwar steinige, aber schöne Lagerplätze. Nur zweieinhalb Stunden hat der Ritt gedauert, während dem wir einhundertsiebzig Höhenmeter abgebaut haben. Der Schraubdeckel der Verpflegungstonne ist durch den Druckunterschied so festgepresst, dass wir ihn mit dem Gummihammer locker klopfen müssen. Es ist früher Nachmittag. Uns bleibt viel Zeit, den Vorrat an Feuerholz aufzustocken, auf Suche nach Trinkwasser zu gehen und uns kulinarisch zu verwöhnen.

Kenterung im Sturm

Der erste Blick am nächsten Morgen gilt wie immer dem Wetter. Seit der Wanderung am Sediments Creek hatten wir zwar viel Wind, aber auch viel Sonne. Das Gebirgsmassiv im Süden ist noch deutlich zu sehen, aber der Horizont dahinter hat sich bedrohlich dunkel gefärbt. Wir schlüpfen in Trockenhose und Trockenjacke, darüber die Schwimmweste. Wie auch immer das Wetter ist, unsere Flusskleidung bleibt unter den allgegenwärtig unkalkulierbaren Bedingungen gleich. Selbst die Wildwasserhelme tragen wir die ganze Zeit, sie bieten nicht nur Schutz, sondern halten den Kopf warm und trocken. So fühlen wir uns auch heute rundum geborgen, wohl wissend, dass uns ein Wettersturz bevorsteht.
Zunächst navigieren wir durch ein breites Labyrinth zahlloser Wasserarme im Bereich der Mündung des Basement Creek. Es ist wie die breite Öffnung eines Trichters, in dem die Wasser schließlich zu einem schmalen Ausgang zusammen laufen und in die S-Turns gepresst werden. Hier geht dann mit sechzehn km/h die Post ab. Zunehmendes Gefälle und der gewundene Flusslauf provozieren hohe, teils brechende Wellenzüge, Walzen und tiefe Löcher in den Außenkurven, so dass wir immer wieder nach innen traversieren. Keine Zeit, den immer besser werdenden Ausblick auf die Fairweather Range zu genießen. Nach dem Slalom teilt sich der Tatshenshini wieder in etliche Arme und das Spiel des Suchens und Findens beginnt von Neuem. Die Flussbreite hat deutlich zugenommen. Starke Windböen sind die ersten Anzeichen der sich schnell nähernden Schlechtwetterfront. Wenig später haben sie Sturmstärke erreicht. Riesige Sandfahnen stehen in der Luft. Um im Stromzug zu bleiben, sind wir gezwungen, das Kilometer breite Flusstal drei, vier Mal zu queren und sind der Wucht dann voll ausgesetzt. Irgendwann entscheiden wir uns für die falsche Richtung und setzen mitten im Fluss auf. Während ich aussteige, um das Kanu wieder flott zu kriegen, höre ich Peter hinter mir rufen. Als ich mich umdrehe, sehe ich ihn neben seinem Outside schwimmen. Uns durchfährt ein Riesenschreck; keine Chance, schnell dahin zu kommen. Rasend schnell versuchen wir unser Boot frei zu bekommen. Als wir endlich wieder im Ally knien, sehen wir, dass es Peter gelungen ist, in sein Boot zurück zu klettern. Es dauert, bis wir auf den verschiedenen Strömungsgleisen wieder zueinander finden. Das Missgeschick ist passiert, als Peter im allzu flachen Wasser ausstieg, um den Outside an der Leine darüber gleiten zu lassen. Bis der Flussboden unvermittelt senkrecht nach unten abbrach. Von jetzt auf nachher fand er sich schwimmend neben seinem Schlauchboot. Mit seiner ganzen Grand-Canyon-Erfahrung hat Peter zum Glück die Nerven behalten!
Unvermindert bläst der Sturm weiter. Flusslauf und Landschaft sind bei den Sichtverhältnissen schwer einzuschätzen. Die Mündung in den Alsek River kann nicht mehr weit sein. Vorsichtig in Ufernähe tasten wir uns weiter. Nach etwa einem Kilometer liegt endlich Petroglyph Island vor uns und wir finden auf der Westseite einen idealen, geschützten Lagerplatz. Hoch heulen die Sturmböen über uns hinweg.
In der Nacht prasselt Dauerregen mit einer Intensität auf die Zeltplane, die uns kaum schlafen lässt. Ohne große Erwartungen verlasse ich am Morgen die Kata … Über uns blauer Himmel, aufsteigende Wolkenfetzen an den Berghängen und die Spitzen der Fairweather Range leuchten im ersten Sonnenlicht. Es ist ein Traum!
Beim Zähneputzen entdecke ich einen Grizzly auf der anderen Flussseite. Zielstrebig nach Nahrung suchend, nimmt er keine Notiz von uns. Wir machen die kurze Wanderung auf die felsige Inselkuppe zu den Petroglyphs. Die beiden kleinen, in den Stein gemeißelten, verzierten Kreise sind schwer zu finden. Wir gießen etwas Wasser auf den Fels und gleich werden ihre Konturen deutlich sichtbar. Ihre Bedeutung ist unklar, sicher ist nur, dass sie prähistorisch sind.

Auf dem Alsek River zum Walker Glacier

Abschied vom Tatshenshini River. Wenige hundert Meter nach dem Ablegen von Petroglyph Island erreichen wir den Alsek River, eine riesige Wasserfläche, dreimal breiter als der Tatshenshini. Die Strömung ist gut. Wir kämpfen nicht gegen sie an, um die scheinbar kürzeste Strecke zu finden, sondern lassen uns mitziehen, lediglich darauf bedacht, nicht in flaches Wasser zu geraten. Dabei machen wir die irrwitzigsten Schwenks von einer Flussseite zur anderen. Wir passieren die Grenze nach Alaska, zu erkennen als ein hellgrüner, gerodeter Streifen in der Vegetation links und rechts des Flusses. Vor uns scheint der Alsek zu Ende zu sein. Die geschlossene Bergkette voraus lässt nicht erkennen, wo er seinen Durchschlupf findet. Wir treiben nah am linken Ufer. Auf einem Schneefeld entdeckt Petra einen Schwarzbären, der uns unschlüssig beobachtet und dann einige halbherzige Sätze den Hang hinauf macht. Bald darauf knickt der Alsek nach links ab und verlässt das eindrucksvolle Amphitheater. Voraus kommt die mächtige Eiszunge des Walker Glacier in Sicht. Die Anfahrt ist etwas tricky, aber wir finden den richtigen Kanal und legen bald darauf oberhalb der Endmoräne des Gletschers an. Die Freude über den schönen Lagerplatz wird nur dann etwas beeinträchtigt, wenn nachlassender Wind die Black Flies aus ihren Verstecken lockt. In der Nacht dringt immer wieder dunkles Grollen vom Gletscher herüber. Trübe beginnt der folgende Morgen und wir schieben den Start für die Wanderung hinauf ins Eis mit einem ausgedehnten Frühstück vor uns her. Obwohl die erhoffte Wetterbesserung ausbleibt, machen wir uns am späten Vormittag auf den Weg. Eisschollen schwimmen auf dem See, in den die etwa zwanzig Meter hohe Abbruchkante des Gletschers mündet. Durch Geröll und Matsch umgehen wir ihn auf der linken Seite und kraxeln nach oben, bis wir den Übergang auf die weite, von schmalen Spalten durchzogene und mit Steinen und großen Brocken übersäte Eisfläche erreichen. Nach hinten steigt das Plateau leicht an und darüber hängt blau und gewaltig die Eiszunge des Gletschers. Unter uns liegt der Gletschersee, dahinter fließt der Alsek River vor der Wolken verhangenen Bergkette. Ein toller Ausblick! Es ist ein wahrhaft wildes Land, mit einer unglaublichen Vielfalt an Landschaftsformationen, Flora und Fauna.
Und es gibt auch eine einzigartige Unterart des Feuerholzes, der wir uns am Nachmittag widmen. Die schönen Trockenbäume der Taiga liegen schon lange hinter uns. Hier bleibt nur das “amazing alsek rubber wood”, mit viel Feuchtigkeit gesättigtes Schwemmholz von gummiartiger Konsistenz. Immer wieder frisst sich die Säge fest, während das Spalten deutlich einfacher geht. Der Komfort eines warmen Zeltes und trockener Kleidung ist uns jeden Schweißtropfen wert.

Das große Finale: Alsek Lake

Das Stabile am Wetter ist die Wechselhaftigkeit. Auf Dauerregen und totales Mistwetter in der Nacht folgt ein wunderschöner Morgen. Nachdem wir die schnelle Hauptströmung des Alsek Rivers erreicht haben, kann uns der straffe Gegenwind nicht mehr aufhalten. Ohne uns anzustrengen, kommen wir schnell voran und können die malerische Landschaft genießen. Rechts fallen dicht bewaldete, grüne Berghänge steil zum Fluss herab. Immer wieder rauschen dazwischen Wasserfälle herunter. Auf der anderen Seite liegen die felsigen Berge etwas weiter zurück. Zwischen den Gipfeln drängen Gletscher zu Tal. Ein Linksschwenk nach Süden. Im Nordwesten leuchtet der gewaltige Eispanzer des Novatak Glaciers. Vor uns die weite Wasserfläche des Alsek, links und rechts der Blick auf nahezu zwanzig große Gletscher. Winzig treiben wir durch eine Landschaft für Giganten.
Weit voraus begrenzt der Alsek Gletscher den linken Horizont. Eine schmale, lang gezogene Landzunge trennt den Fluss vom gleichnamigen See. Wir legen an und machen den kurzen Hike durch den Busch, bis wir verzaubert stehen bleiben. Vor uns breitet sich die Wasserfläche des Alsek Lakes aus, auf dem eine ganze Flottille von Eisbergen unterschiedlicher Dimension kreuzt. Allein für diesen Anblick hat sich schon die ganze Reise gelohnt. Später spähen wir von einem Aussichtspunkt auf der anderen Flussseite nach der sichersten Einfahrt in den See. Der sogenannte “Channel of Death” ist eisfrei, aber weiter hinten, am Gateway Knob, scheinen die Eisberge den ganzen See zu blockieren. Dort wollen wir heute lagern. Als wir uns dem Eisstau nähern, erkennen wir, dass es eine schmale Durchfahrt gibt. Der Seeboden steigt zum Ufer hin relativ flach an, so dass die Eisberge im tieferen Wasser stranden. Staunend paddeln wir durch eine bizarre Welt phantasievoller Formen aus intensivem Blau, die sich teilweise mehr als zwanzig Meter über uns erhebt. Bitte jetzt nicht aufwachen, bitte lass das alles wahr sein!
Hinter der steilen Erhebung des Gateway Knob gibt es schöne Lagerplätze. Die juckenden Stiche der Black Flies beweisen uns, dass wir nicht träumen. Wir greifen zu bewährten Abwehrmassnahmen und stellen unsere Kata mit der Moskitotarp auf. Darüber hinaus bestätigt uns ein erfrischendes Bad im See inklusive eines nackten Ritts auf einem Eis-Entchen, dass wir auch nicht in einer virtuellen Welt gestrandet sind.
An den nächsten beiden Tagen erleben wir nahezu die ganze Bandbreite dessen, was das Wetter im Küstengebirge Südost-Alaskas zu bieten hat. Dauerregen am ersten Tag entwickelt sich am Abend zu einem ausgewachsenen Sturm, dass wir sogar Peter’s Hilleberg Tunnelzelt, das quer zur Windrichtung steht, um neunzig Grad drehen und fest verankern. Erdstreifen und Heringe der Kata sind mit großen Steinen beschwert. Alles steht sicher, aber das laute Knattern der Planen im Wind lässt uns lange nicht zur Ruhe finden. Irgendwann in der Nacht ist der Sturm eingeschlafen. Das Prasseln der Regentropfen hört erst am Morgen auf. Die Topografie der Eisberge auf dem See ist in ständiger Bewegung. Immer wieder hören wir Kanonenschläge, mit denen sie vom Gletscherrand in den See stürzen. Dort werden sie zum Spielball von Wind und Strömung, bis sie mit Donnergrollen auseinander brechen. Mit dem Ally kreuzen wir am Nachmittag im Sonnenschein auf dem See. Die Gipfel der Fairweather Range bleiben in den Wolken versteckt. Am Abend leuchten die Eisberge im warmen Licht und wie eine Fata Morgana taucht ein weißer Kegel über den Wolken auf. Der Gipfel des Mount Fairweather. Mit 4.671 Metern Höhe ist er der höchste Berg in British Columbia, und er liegt nur wenige Kilometer vom Ozean entfernt. Der Höhenunterschied von unserem Camp zu seinem Gipfel ist größer als der vom Basislager des Mount Everest zum höchsten Punkt der Erde.
Die letzte Etappe. Aufbruch in der Morgendämmerung. Bis zur Küste sind es nur etwas mehr als zwanzig Kilometer. Bald zieht uns die Strömung in den Fluss und wir erreichen schnell unsere gewohnte Reisegeschwindigkeit. Eisschollen treiben mit uns auf ihrem Weg zum Meer. Durch die dicht bewaldeten, steilen Berghänge der Brabazon Range stürzen geräuschvoll imposante Wasserfälle herunter. Noch zwei Stromschnellen und wir nähern uns allmählich Dry Bay. Die ersten Seehunde halten neugierig nach uns Ausschau. Einsetzender Nieselregen reduziert die Sicht und erschwert in dem flachen Gelände die Suche nach dem Seitenarm, der uns landeinwärts zum Airstrip führen soll. Endlich finden wir ihn, wir müssen wieder stromauf und das flache Wasser gibt uns ausreichend Gelegenheit, den Begriff “Wasserwandern” zu verinnerlichen. Schließlich erreichen wir das Ziel unserer Kanutour im strömenden Regen.

Verzögerte Rückkehr in die Zivilisation

Aber noch ist das Erlebnis nicht vorbei. Erst am nächsten Morgen öffnet sich ein kurzes “Etwas-besser-Wetter-Fenster”, das Paul, Inhaber von Mountain Flying Service, nutzt, um uns mit seiner Bush Hawk heraus zu holen. Wir sind sehr erleichtert, als das rote Flugzeug über die Baumwipfel springt und ganz cool direkt bis vor die Hütte rollt. Mit Müh und Not bringen wir unser ganzes Equipment in der kleinen Maschine unter. Der Rückflug nach Haines führt quer über die Fairweather Range. Auf der linken Seite blicken wir hinab auf den weiß gesprenkelten Alsek Lake und unseren Lagerplatz, dahinter verliert sich der Alsek River im Dunst. Rechts sehen wir den Brandungsstreifen des Pazifiks und vor uns ragen felsige Gipfel, dominiert vom Mount Fairweather, aus der Wolkendecke. Ab und zu haben wir einen Blick auf die gigantischen Eisfelder unter uns, sie sind Bestandteil der größten Eisfläche außerhalb der Polkappen. Nach einer guten Stunde Flugzeit erreichen wir das breite Tal des Chilkat River und landen wenig später in Haines. Noch am gleichen Tag fahren wir mit der Fähre weiter nach Skagway. Vor achtzehn Jahren sind wir genau mit diesem Schiff, der “Malaspina”, die Inside Passage von Prince Rupert nach Norden gefahren und haben in Liegestühlen auf dem überdachten Sonnendeck geschlafen. In Skagway finden wir Quartier in der Sgt. Preston’s Lodge und feiern den erfolgreichen Abschluss unserer Traumtour bis in die Nacht bei Livemusik und toller Stimmung in der vollen Hütte im “Red Onion”. Mit der Rückfahrt nach Whitehorse am nächsten Tag schließt sich für uns so ganz nebenbei noch der als “Golden Circle” bezeichnete Kreis, die Verbindung von Alaska Highway, Haines Highway, Alaska Marine Highway und South Klondike Highway.

Was noch zu sagen bleibt, haben wir bei Wikipedia gefunden:

Das Erlebnis ist ein Ereignis im individuellen Leben eines Menschen, das sich vom Alltag des Erlebenden so sehr unterscheidet, dass es ihm lange im Gedächtnis bleibt. Oh, ja!!!