VON DER HEDMARK ZU DEN FJORDEN
Es gibt wohl nur wenige Länder auf der Erde, in denen man innerhalb kürzester Zeit die unterschiedlichsten Naturschauspiele auf höchstem Niveau erleben kann. Norwegen ist eines davon. Seine geographische Lage und seine erdgeschichtliche Vergangenheit sind der Grund, dass hier am nordwestlichen Rand des europäischen Kontinents eine geradezu unglaubliche Vielfalt verschiedener Landschaftsformationen entstanden ist. Gletscher, tief eingeschnittene Fjorde, das weite Fjell, stille Seen und donnernde Wasserfälle lassen dem Betrachter den Atem stocken.
Den Menschen bedeutete diese Natur aber auch schon immer Herausforderung, die eigene Existenz im nordischen Klima zu sichern und das gemeinschaftliche Leben angesichts solcher Barrieren wie trennende Fjorde, vergletscherte Gebirgspässe oder von reißenden Flüssen gefüllte Schluchten zu organisieren. Wenn man heute in Norwegen durch Kilometer lange Tunnel rollt oder den berühmten Trollstigen hinauf fährt, weiß man, dass diese Herausforderungen den Norwegern eher Ansporn und Inspiration denn Hemmnis waren und sind. Das ist sicherlich einer der Gründe, dass ein so bemerkenswertes Land auch eine ganze Reihe bemerkenswerter Menschen hervorgebracht hat, deren Leistungen in der ganzen Welt bekannt sind. Seien es die Wikinger, die schon rund fünfhundert Jahre vor Kolumbus über den Atlantik an die nordamerikanische Küste segelten, die Polarforscher Fridtjof Nansen und Roald Amundsen, der visionäre Wissenschaftler Thor Heyerdahl, Abenteurer wie Børge Ouslund oder Skisportler wie Marit Björgen und Ole Einar Björndalen, um nur einige zu nennen.
Allein das sind schon genügend Motive, um nach Norwegen zu reisen, ein Land, das wir bisher noch nicht kennengelernt haben. Der Hauptgrund aber, dass wir uns Ende Juni zusammen mit Florian, Martina (aka Bushpaddler), Stefan und Manuela aus Hannover auf den Weg in den Norden machten, war Wasser. Jede Menge wildes Wasser, das es da oben geben soll, wie diverse Berichte und Bücher glaubhaft versichern. Wir sollten nicht enttäuscht werden.
Beim Studium des Wildwasserführers Norwegen von Jens Klatt und Olaf Obsommer kamen wir schon nach kurzem Suchen auf siebzehn Flüsse bzw. Flussabschnitte im Schwierigkeitsgrad III bis IV. Statt noch weiter zu suchen, konzentrierten wir uns dann lieber darauf, Flüsse in diesem Bereich zu einer Route zu verbinden, die in der uns zur Verfügung stehenden Zeit machbar und vernünftig wäre, ohne alles minutiös zu planen. Wir beschlossen, in der Hedmark in der Nähe der schwedischen Grenze zu starten und das uns unbekannte Land und einen Teil seiner Flüsse dann Richtung Westen zu erschließen.
Lichte Wälder, in denen weiße Moosteppiche und graue Findlinge zwischen den stämmigen Kiefern liegen, kennzeichnen die dünn besiedelte Mittelgebirgslandschaft unterhalb des Femundsees. Auf den kahlen, runden Bergrücken liegen noch vereinzelte Schneereste des vergangenen Winters. An der Elvbrua haben wir den ersten Blick auf unser erstes Ziel. Dunkles Wasser mit weißen Schaumkronen wälzt sich geräuschvoll unter uns hindurch. Der Trysilelven begrüßt uns gleich mit seiner schwierigsten Stelle, dem Elvbruafossen – Wuchtwasser im IV. Grad. Wir nutzen den ersten Tag und starten unterhalb der Stromschnelle, um uns einzupaddeln. Viel Wasser, schnell, teilweise hohe Wellenzüge – gut, um uns an die Dimensionen zu gewöhnen. Wenige Wochen vor unserer Ankunft gab es in Norwegen schwere Unwetter, begleitet von Hochwasser, die in manchen Regionen ganze Straßenabschnitte unpassierbar machten. Jetzt sind viele Flüsse immer noch gut eingeschenkt.
Am nächsten Tag wird es schwieriger. Der Abschnitt zwischen Sølenstua und der Elvbrua ist gekennzeichnet von einigen wuchtigen, langgezogenen Stromschnellen. Meist tasten wir uns bis zum letzten Kehrwasser heran und versuchen von dort eine Linie zu finden. Auch wenn die Wellengebirge wie das reine Chaos aussehen, entdecken Flo und Martina im vorausfahrenden Tandem immer wieder saubere Durchfahrten und mit zunehmender Sicherheit steigt auch der Spaßfaktor. Höhepunkt wird der Elvbruafossen, den wir zunächst scouten, um die optimale Durchfahrt zu finden. Anfahrt von rechts diagonal nach links ins letzte Kehrwasser über der Abschlusswalze, von dort zurück in die Hauptströmung und scharf rechts an der Walze vorbei. Soweit der Plan. Bei Flo und Martina geht er auf. Ich schaffe es nicht weit genug in die Strommitte, nehme die Walze zwangsläufig frontal mit Speed und schaue hinterher verdutzt, wie wenig Wasser im Kanu ist. Stefan verpasst das Kehrwasser, zieht Plan B, macht einen 360°-Kreisel und fährt im Übergriff durch den rechten Rand der Walze.
Am späten Nachmittag rollen wir vom idyllischen Campingplatz in Sølenstua. Bei einer Rast entdecken wir auf der Mistra, die tief unterhalb der Straße durch eine enge Waldschlucht rauscht, einige bunte Farbtupfer – Kajaks. Kurz entschlossen kraxeln wir hinunter. Der Bach reizt uns sehr, aber der Großteil seines Laufes ist nicht einsehbar, einmal in der Schlucht gibt es kaum Möglichkeiten zum Abbruch. Und wir sehen, mit welchen Schwierigkeiten die Kajaker zu kämpfen haben. Verblockte Abfälle verlangen eine sehr genaue Linienführung. Es wird gesichert, gekentert, umtragen, stecken geblieben. Scharfkantige Steine im Flussbett deuten auf eine materialintensive Befahrung. Wir verzichten und treffen später ein Mädchen aus der Kajakgruppe, das aus der Schlucht geklettert ist und nun in voller Montur, aber ohne Boot noch einige Kilometer auf der Straße bis zur Aussatzstelle vor sich hätte, wenn sich Flo und Martina im ersten Fahrzeug ihrer nicht erbarmt hätten.
Wir verbringen die Nacht am Straßenrand oberhalb von Unsetbrenna. Am nächsten Tag geht es auf die Unsetåa. Der Fluss zieht zunächst gemütlich durch ein breites Tal, das sich langsam verengt. In gleichem Maße nehmen spritzige Schwallstrecken zu, die bald zu verblockten Stromschnellen werden. Mit zunehmendem Gefälle steigt der Wasserdruck. Schließlich bewegen wir uns im Bereich Wildwasser III durch eine enge Schlucht. Da die Kehrwasser oft zu klein für mehrere Boote sind, fahren wir in entsprechendem Abstand. Die Vorderleute geben jeweils das Zeichen zum Nachkommen oder sie steigen aus – das Signal zum Scouten. Trotz der Schwierigkeiten ist der Flusscharakter sehr angenehm, da es nach jeder Stromschnelle Auslaufzonen gibt. Im letzten Drittel erwartet uns noch eine knifflige Stelle; steil, lang gezogen und unübersichtlich. Stefan kentert, schlägt sich Schulter und Daumen an. Glattes Wasser zwischen steilen Felswänden im Unterlauf. Stefan steht bis zum Bauch im Wasser am Fels und verarztet sich, während wir in den Kanus warten. Ohne jede Vorwarnung prasselt plötzlich ein Steinregen über die linke Felskante. Ein Brocken, groß wie ein Basketball, knallt auf das Heck von Flo und Martina. Die beiden geben sofort Gas und fahren ohne groß zu schauen in den nächsten Rapid ein. Stefan hechtet auf sein Boot und schwimmt von der Wand weg. Zum Glück ist niemand etwas passiert. Erleichtert nehmen wir die letzten Schwierigkeiten bis zum Ausstieg.
Über Tynset geht unsere Reise weiter nach Grimsbu, wo wir auf dem Campingplatz einchecken. Am nächsten Tag folgen wir der Straße 29 bis Folldal und biegen links auf die Nr. 27 ab. Nach wenigen Kilometern erreichen wir die Brücke, die sich über die Grimsa spannt. Hier ist unsere Einsatzstelle. Das Tal ist weit und offen, umgeben von runden, baumlosen Bergrücken. Wir starten bei schönstem Sonnenschein. Breit und flach plätschert die Grimsa durch flaches Land mit lockerem Baumbestand. Schon bald nimmt das Gefälle zu und über leichte Stromschnellen geht es flott voran. Später schlängelt sich der Fluss zwischen 5 – 10 m hohen Felswänden, immer wieder anspruchsvolle Stufen hinabspringend. Nach vier Kilometern erreichen wir eine Brücke, unter der die Grimsa steil nach unten abbricht – WW IV. Kurz danach ein fünf Meter hoher Wasserfall. Wir umtragen rechts und seilen die Kanus unterhalb des Wasserfalls die steile Böschung hinunter zum Fluss. Ab hier wird die Grimsa wieder breiter und flacher und fließt bis zur Aussatzstelle kurvenreich durch ein schönes bewaldetes Tal.
Am nächsten Tag steht die Folla auf dem Programm. Dauerregen und Wuchtwasser ist das, was uns in Erinnerung bleiben wird. Viel Gefälle, hoher Wasserstand, immer wieder Pourovers, wenige Kehrwasser – es wird ein schneller Run.
Noch am gleichen Tag verlegen wir unser Lager nach Atnsbrua. Auf dem Weg dahin teilen wir uns die Straße wieder mit jeder Menge Schafe, die teilweise mitten auf der Fahrbahn liegen. Etwa 500 m unterhalb des Atnfossen liegt der idyllische Zeltplatz. Das Wetter klart auf und mit der Sonne tauchen die unvermeidlichen Plagegeister des Nordens auf. Wir knüpfen das Moskitonetz an die Tarp und verbringen einen entspannten Abend, den Flo und Martina mit flambierten Bananen krönen.
Keine zehn Meter von uns entfernt fließt die Atna vorbei, ein bequemer Start in die nächsten beiden Paddeltage. Von hier sind es 23 Kilometer bis Mogrenda. Die erste Hälfte besteht vorwiegend aus WW II bis III mit einer unübersichtlichen IVer-Stelle, die wir umtragen. Dann nimmt das Gefälle allmählich zu und die Schnellen werden anspruchsvoller. Die etwa 500 Meter lange, wuchtige Schlüsselstelle beginnt unter der Brücke der gesperrten Forststrasse und liegt im Bereich III+. Wir besichtigen genau und bauen eine Sicherungskette auf, während jeweils ein Kanu die Stromschnelle befährt. Ab hier setzen sich die Schwierigkeiten nahezu ununterbrochen fort, bis auf eine Prallwand fahren wir alles auf Sicht. Auf den letzten Kilometern bis zum Ausstieg wird die Atna breiter, damit flacher und steiniger.
Setninga – 18 km Wildwasser in einer engen Waldschlucht, viele Abschnitte im IV. Grad. Einmal gestartet, gibt es kein Zurück. Dieser Fluss ist für uns die größte Herausforderung in der Hedmark. Etwas aufgeregt sind wir alle, als wir auf dem kleinen See im Regen starten. Die Setninga verlässt ihn als mittlerer Wiesenbach. Das Wasser ist klar, Algen schlängeln sich in der noch sanften Strömung. Vorbei an einigen Gehöften nimmt das Gefälle schnell zu. Immer wieder gibt es kleine Stufen und steinige Rutschen. Bald hat sich der Fluss tief eingeschnitten. Mal säumt dichter Wald die steilen Uferhänge, mal senkrechter Fels. Einen verblockten Drop besichtigen wir, trotzdem muss ich im Auslauf rollen. Es wird immer noch steiler, jetzt geht’s auf WW IV. Wir fahren fast alles auf Sicht aus dem Boot. In der Schlüsselstelle wird die Setninga eng zusammengepresst. Bei diesem Pegel verschwindet der Hauptteil des Wassers unter einer scharfkantigen, waagerecht heraus stehenden Felsplatte. Damit möchte keiner von uns nähere Bekanntschaft schließen. Wir umtragen in einer schlüpfrigen Kletterpartie und setzen direkt unterhalb im turbulenten Wasser wieder ein. Dort schließen sich zwei steile Drops an. In diesem Stil geht es noch eine ganze Weile weiter, bis sich das Tal leicht öffnet und die Schwierigkeiten auf WW III bis II zurückgehen. Nach einigen steinigen Kilometern, auf denen der Spassfaktor etwas sinkt, folgt der letzte, wuchtige IVer vor der Brücke der Strasse 27. Wenig später erreichen wir nach gut vier Stunden das Ende einer rasanten Wildwasserfahrt.
Weiter führt uns unsere Reise Richtung Westen zum Wildwasser-Klassiker Norwegens schlechthin – an den Fluss Sjoa. Unser Lager schlagen wir auf dem idyllischen Campingplatz Randsverk auf. Die Umgebung ist wunderschön. Wir besichtigen die Sjoa-Klamm mit dem berühmten Ridderspranget, auf der Russbrua bestaunen wir das gewaltige Naturschauspiel, wie die Sjoa mit urwüchsiger Kraft über mehrere Wasserfälle vom Fjell in eine enge Schlucht donnert. In Hejdal genießen wir die Ruhe in der malerischen Stabkirche, bevor es wieder auf’s wilde Wasser geht.
Der als Playrun bekannte Abschnitt wird ein ordentlicher Wuchtwasserritt. Es braucht etwas Zeit, uns an den ständigen Wasserdruck zu gewöhnen. In den Stromschnellen haben wir zu Beginn noch die Wahl, uns daran vorbei zu mogeln oder mittendurch zu hauen. Aber die “Kampflinie” macht Spaß und es gilt auch hier die Regel: “Speed is your friend.” Nach der engen, turbulenten Einfahrt in den Schluchtabschnitt überrascht mich das Gefälle, das sich vor uns auftut. Hoch oben von der Strasse sieht das nicht annähernd so aus. In der Faukstad-Welle, einmal jährlich Schauplatz des Sjoa-Rodeos, legt Stefan einen Traumsurf hin. Mein “Gatineau” im Playspot nach dem China Hole am Ende der Schluchtstrecke ist wie der Ritt auf einem Wildpferd. Begeistert von diesem Tag suchen wir nach der nächsten Herausforderung.
Oberhalb des Playruns liegt die Große Schlucht der Sjoa. Abgelegener, mit noch mehr Wasserwucht und höheren WW-Schwierigkeiten wäre das die Steigerung. Stefan hat die Superidee, den Abschnitt vorher mit einem kommerziellen Anbieter zu raften, um ihn kennenzulernen. Wir buchen bei Sjoa Rafting und müssen erfahren, dass es so einfach nicht ist. Bevor die Guides bereit sind, mit ihnen unbekannten Paddlern auf die anspruchsvolle Schluchtstrecke zu gehen, muss zunächst der Test auf dem Playrun bestanden werden. Für uns kein Problem, sondern ein herrlicher Spaß. Am Nachmittag geht es in die Große Schlucht. Mit Petra, Manuela, Stefan und Holger sind noch zwei Guides an Bord, zusätzlich ein weiteres Raft zur Absicherung – sicheres Zeichen, dass es hier um einiges heftiger zur Sache geht. Die Schlucht ist beeindruckend schön, immer wieder prallen die Wassermassen auf senkrechte Felswände. Wasserfälle stürzen herunter, Erdrutsche haben Schneisen gezogen. Die Rapids tragen Namen wie Surprice Rapid, Kiss the Wall und Take a Shower. Die Schlüsselstelle “The Gut” wird vor der Befahrung genau begutachtet, hier gab es schon tödliche Unfälle. Unser Résumé dieses spannenden Tages: Die große Schlucht würden wir nur mit ausreichender Sicherheitsbegleitung angehen. Sollte einer in Schwierigkeiten kommen, wird es in unserer kleinen Gruppe schwierig, sich gegenseitig zu helfen.
Über Dombås mit einem Abstecher nach Oppdal rollen wir weiter. Während Florian, Martina und Stefan bei Oppdal die Driva befahren, strapazieren Petra und ich die Beinmuskulatur auf dem sieben Kilometer langen Rundweg im Fokstumyra Naturreservat. Viel Regen lässt die Pegel steigen und verhindert die Befahrungen der Jori und der Lora.
Entlang des Flusses Rauma führt die Strasse E 136 Richtung Westen. Das Wetter klart auf und die Landschaft wird immer spektakulärer. Himmelhohe, senkrechte Felswände links und rechts, aus denen unzählige Wasserfälle stürzen. Wenige Kilometer vor Åndalsnes biegen wir links ab, überqueren den Fluss und dann geht es hinauf zum berühmten Trollstigen. Dort folgen wir den Serpentinen direkt in die Wolken. Auf der anderen Seite sind wir im Valldal und paddeln auf unserer letzten Tour bis in den Norddalsfjord.
Von hier beginnen wir unsere Rückreise mit einer Fahrt durch den Geirangerfjord. In Geiranger trennen wir uns für kurze Zeit. Florian und Martina wollen in die alte Stadt Bergen, Stefan und Manuela ins Otta-Tal. Petra und ich fahren über den Jotunheimen Nationalpark hinunter zum Sognefjord. Unterwegs nehmen wir zwei belgische Rucksacktouristinnen mit, die vor Freude im Nieselregen auf der Straße tanzen, als wir auf ihre ausgestreckten Daumen anhalten. Unser Ziel ist das Jostedal, wo wir bei herrlichstem Wetter an der gewaltigen Gletscherzunge des Nigardsbreen hautnah erleben können, wo in Norwegen das ganze Wildwasser eigentlich herkommt.
Zwei Tage später treffen wir uns wie verabredet um sieben Uhr Abends in Oslo im Hardrock Café wieder. Norwegen hat uns alle tief beeindruckt. Einmalige Landschaften, wunderschöne Flüsse, nette Menschen – und dabei haben wir nur einen kleinen Teil dieses Landes gesehen. Wir werden wohl wiederkommen müssen!