Korsika

In der Nacht zu Karfreitag überqueren wir den Brenner im Schneegestöber. Was für ein Wetter. Weihnachten war frühlingshaft, Silvester fuhren wir Wildwasser im Schwarzwald. Jetzt scheint es, als nähme der Winter kein Ende. Gestern haben wir unsere Skisaison auf den gut präparierten Loipen am Oberhofer Grenzadler beendet und machten uns südwärts auf die Suche nach dem Frühling.

Erst nach Bozen geht der Schnee in Regen über. Am frühen Morgen erreichen wir den Fährhafen in Livorno und verlassen das Festland unter einer tief hängenden Wolkendecke. Gut vier Stunden später rollen wir voller Spannung von Bord in die Strassen Bastias. Der Kontrast könnte kaum größer sein: Sonne, Wärme, Palmen – Korsika. Endlich!
Unser erstes Ziel ist der Campingplatz E Canicce bei Moltifao im Asco-Tal vor der malerischen Kulisse der höchsten Berge der Insel. Noch am Nachmittag folgt eine Erkundungsfahrt durch die nahe Asco-Schlucht bis hinauf nach Haut-Asco (1.361 m), wo uns Kälte, dichter Nebel und leichtes Schneetreiben an zu Hause erinnern und zum schnellen Rückzug veranlassen.
Den ersten Kontakt mit dem korsischen Wildwasser haben wir auf dem unteren Asco mit Einstieg direkt am Campingplatz. Vorher bringen wir das Auto an die Aussetzstelle und versuchen zurück zu trampen, trotz diverser Meinungen über das herbe Naturell der Korsen. Und siehe da, ein älterer Mann nimmt uns in seinem Jeep mit und fährt sogar einen Umweg, um uns bis zur Abzweigung nach Moltifao zu bringen. Der untere Asco, klassifiziert bis WW II+, ist eigentlich ein moderater Einstieg, überrascht uns aber mit Schwierigkeiten ganz neuer Natur. Ein schneereicher Winter und ergiebige Regenfälle in den vergangenen Wochen sorgen in ganz Korsika für hohe Wasserstände. Hier am Asco sind nicht nur die Ufer dicht bewachsen, auch mitten im Flussbett haben sich Buschwerk und sogar Bäume angesiedelt, was uns zu einem spannenden Naturslalom bei flotter Strömung und oft eingeschränkter Sicht zwingt. Und wir machen Bekanntschaft mit der allgegenwärtigen Macchia, dem dornenreichen und immergrünen Buschwald.
An historischer Stelle starten wir den nächsten Paddeltag. In Ponte Nuovo stehen die Reste einer Brücke über den Golo, den längsten Fluss Korsikas. Hier besiegten französische Truppen am 8. Mai 1769 die korsischen Unabhängigkeitskämpfer. Auf dem Abschnitt bis Barchetta fliesst der Golo flott und wasserreich teils mit hohen Wellenzügen und bis in die Ufervegetation reichend dahin. Eine wuchtige IIIer-Stelle scouten wir. Hauptschwierigkeit ist der Katarakt kurz vor dem Ausstieg, in den wir leichtsinnig auf Sicht einfahren. Steiles Gefälle, alles ist überspült. Hinter großen Blöcken bilden sich Walzen und tiefe Löcher. Prompt werde ich von einem gefressen. Petra ist direkt hinter mir und kentert als sie mein Kanu touchiert. Die anschließende Bergeaktion wird eine intensive Auseinandersetzung mit der Macchia und zieht sich etwas in die Länge.
Entspannter geht es am nächsten Tag zu. Der Tartagine ist ein kleiner Fluss, der in den Asco mündet, kurz bevor dieser bei Ponte Leccia auf den Golo trifft. Wir können uns einer geführten Gruppe von Ulis Paddelladen anschließen, was die Logistik deutlich vereinfacht. In zahlreichen Windungen schlängelt sich der Tartagine mal mehr und mal weniger verblockt durch Wiesen und baumbestandene Ufer. An einigen Stellen hat das sonnige Frühlingswetter ganze Großfamilien zum Picknick an den Fluss gelockt. Wo immer wir vorbeikommen, springen sie ans Ufer und winken uns freundlich zu. Eine knifflige Blockstrecke fährt Petra derart souverän, dass sie vor Freude im harmlosen Auslauf kentert. Die einzige IIIer-Stelle kurz vor der Mündung bringt soviel Spaß, dass einige sie mehrfach befahren.

Nur eine gute halbe Autostunde ist es von unserem Basecamp nach Corte, der heimlichen Hauptstadt Korsikas. Über der Altstadt thront die Festung aus dem frühen 15. Jahrhundert vor der eindrucksvollen Bergkulisse. Blaulicht und eine Menschenmenge mitten auf der Strasse stoppen uns auf unserem Weg ins Zentrum. Presseleute recken ihre Fotoapparate über die Köpfe, als mehrere Uniformierte einen mit den Händen auf dem Rücken gefesselten Mann aus dem Polizeigebäude in ein Auto bugsieren. Sein Kopf ist von einer Kapuze verhüllt. Einige Männer in der Ansammlung recken ihre Fäuste in die Höhe und rufen etwas. Ganz offensichtlich handelt es sich um ein prominentes Mitglied der teilweise militanten korsischen Separatistenbewegung. Schließlich winkt ein Beamter den Verkehr vorbei. Seit der Antike war die Insel nahezu ununterbrochen von fremden Mächten besetzt. Und genauso lange gibt es die Freiheitsbestrebungen der einheimischen Bevölkerung. Obwohl Frankreich seit der jüngeren Vergangenheit nicht mehr als Kolonialmacht auftritt und die Insel eine Selbstverwaltung hat, gibt es immer noch Korsen, die mehr Eigenständigkeit wollen. Entsprechende Parolen an Häuserwänden und Strassentunneln, sowie die durchgestrichenen französischen Namen auf den Ortseingangsschildern sind allgegenwärtige Hinweise dafür. Ein Zeugnis aus der Vergangenheit ist die mächtige Zitadelle. Von ihrem höchsten Punkt, dem Adlernest, haben wir einen weiten Blick über die Stadt mit dem Tavignanofluß.
Auf dem Weg hinunter in die Altstadt begegnen wir ständig der bewegten Geschichte, wie dem Denkmal Gianpetro Gafforis und seinem von Kugeleinschlägen übersäten Wohnhaus dahinter. In einem Café an der Place Paoli genießen wir die malerische Atmosphäre zwischen alten Häusern, Palmen und der imposanten Festung. Frisch gestärkt lockt uns das nahe Restonica-Tal. Eine schmale Strasse klettert teilweise spektakulär durch die enge Schlucht bis zu den Bergeries de Grotelle auf 1.370 Meter Höhe. Dort ziehen wir die Wanderstiefel über und beginnen den Aufstieg zum Lac de Melo, einem Gebirgssee, der bis zu acht Monate im Jahr zugefroren bleibt. Auf halbem Weg bleiben wir im steilen Gelände buchstäblich im Schnee stecken. Es ist noch zu früh im Jahr.
Der Golo zwischen dem Kraftwerk Castirla und dem Campingplatz Campita ist sicherlich einer der Wildwasser-Klassiker in Korsika mit Stromschnellen bis zum IV. Grad. Stromauf davon nehmen die Schwierigkeiten sukzessive zu. Gemeinsam mit den Landshuter Kajakfahrern Jürgen und Phillip, Vater und Sohn und Nachbarn auf dem Campingplatz, suchen wir uns einen Einstieg an einer Brücke etwa zwei Kilometer oberhalb des Kraftwerks. Auf Grund der uns allen Dreien unbekannten Strecke wird es ein spannender und herrlicher Wildwasserspaß. Anfangs sehr verblockt wird der Charakter zunehmend wuchtiger. Beim Ausstieg in Campita finden wir uns mitten im frohen Jugendleben einer Paddlergruppe wieder. “Ich kenne Sie.” Oh Gott, ist es Respekt oder bin ich wirklich schon so alt? “Sie sind der Papa von Lennart.” Marcus, Open Canoe Fahrer, kennt Lennart von gemeinsamen ACA-Kursen. Wir einigen uns auf’s “Du”.
Der Parkplatz unterhalb der Zitadelle von Corte ist unser Ausgangspunkt für eine Wanderung ins obere Tavignano-Tal. Wir folgen zunächst dem Flusslauf, begegnen frei laufendem Vieh und finden einige von aufgeschichteten Steinmauern umgebene Höhlen, früher der Unterschlupf der Hirten auf den Sommerweiden. Als sich die Schlucht verengt und den Weitermarsch am Ufer unmöglich macht, schlagen wir uns durch die Macchia schräg hinauf auf den Wanderweg. Im weiteren Verlauf bietet der Pfad atemberaubende Aussichten in die Schlucht, krümmt sich in tief eingekerbte Seitentäler und wieder zurück. Nach der Brücke über den Tavignano geht es zunehmend steiler hinauf. Aber das Laufen ist eine Lust. Erst der Blick auf die Uhr lässt uns umkehren. Bis zum Refuge de la Vega schaffen wir es wegen des späten Aufbruchs nicht ganz. Aufkommender Regen verwandelt den Weg in einen Bachlauf. Unser Auto erreichen wir im Dauerregen.
Ein regnerischer Morgen und die Hoffnung auf besseres Wetter veranlassen uns zu einem Ausflug nach Calvi. Doch der Regen begleitet uns zunächst bis an die Westküste. Das Panorama der Stadt wird dominiert von der mächtigen Zitadelle über der Bucht mit dem Yachthafen. Während wir sie besichtigen, klart das Wetter auf. Wir bummeln durch die zahlreichen kleinen Läden der Altstadt und flanieren im Sonnenschein auf der Uferpromenade. Schließlich landen wir unter einem Sonnenschirm des Ile de Beaute Café direkt am Wasser. Die Eisbecher sind Weltklasse und der Blick über die Bucht und das Monte Cinto Massiv, den höchsten Berg Korsikas, ist es auch. Auf der Rückfahrt nehmen wir den Weg durchs Gebirge und sind begeistert von den grandiosen Aussichten auf die kleinen Bergdörfer und den Blick bis zum Meer.
Auf dem Weg aus dem oberen Golo-Tal, dem sogenannten Niolo, hat sich der Fluss steil und tief eine enge Schlucht geschnitten, die Scala di Santa Regina. Die schmale Strasse hinauf zum Stausee Lac de Calacuccia quetscht sich dicht an den Fels und muss dabei fast fünfhundert Höhenmeter überwinden. Unten tobt das Wasser zwischen Blöcken und senkrechten Wänden. Oben öffnet sich ein weites Hochtal mit mehreren Dörfern und das Niolo beginnt. Bei schönstem Wetter beginnen wir in Albertacce unsere Wanderung hinauf zum Bocca di Verghiu (1.477 m). Die Tour ist wunderschön und sehr abwechslungsreich. Der junge Golo ist hier schon ein beachtlicher Fluss mit anspruchsvollen Schwierigkeiten. Die Begegnung mit einer Rotte der halbwilden Hausschweine verläuft beiderseits nach Paragraph 1 der Strassenverkehrsordnung (Vorsicht und gegenseitige Rücksichtnahme 🙂 ). Schattige Kastanienhaine wechseln mit Almen, die uns einen ungehinderten Blick auf die schneebedeckten Hochgebirgsgipfel erlauben. Immer wieder queren wir rauschende Bäche, wo wir Kopf und Hände mit dem glasklaren Wasser erfrischen. Nach mehreren Stunden erreichen wir ein weites Hochtal, das von einer gewaltigen Felsenkulisse umrahmt wird. Zwischen den mächtigen Laricio-Kiefern tauchen die ersten Schneefelder auf. Die Bergerie de Radule scheint vor uns in der Felswand zu kleben. Um sie zu erreichen, müssen wir vor den mehrstufigen Kaskaden eines imposanten Wasserfalls rechts abbiegen und steil hinauf klettern. Oben führt eine Brücke über den Gebirgsbach und hier treffen wir auf den GR 20, den berühmten Fernwanderweg Korsikas, dem wir ab jetzt durch tiefen Altschnee folgen. Inzwischen hat sich der Himmel bezogen und begonnen zu regnen. Der Übergang zur tief verschneiten und verlassenen Bergerie im steilen Gelände ist etwas heikel und wir tasten uns sehr vorsichtig hinunter und daran vorbei. Dann wellt sich das Gelände noch einige Kilometer hinüber zum Bocca di Verghiu. Immer wieder gibt die Schneedecke unter unseren Füßen nach und macht die Angelegenheit etwas mühsam. Den Pfad erkennen wir nur an der weiß-roten Markierung an Bäumen und Steinen. Die schmale Strasse über den Pass führt vom Niolo nach Porto an die Westküste und sie ist kaum befahren. Um zurück nach Albertacce zu gelangen, müssen wir noch fast vier Kilometer auf der Strasse zurücklegen, bis das dritte vorbeikommende Auto auf unsere ausgestreckten Daumen hin hält.
Einige Kilometer unterhalb von Corte mündet der Vecchio in den Tavignano. Bei unserem Einstieg für den Abschnitt von hier bis zum Campingplatz Ernella treffen wir drei Kajakfahrer, die gerade ihren Ritt auf dem Vecchio beendet haben. Nach einem kurzen Gespräch drücken wir ihnen unseren Zündschlüssel in die Hand und freuen uns, dass unser Auto auf der Zeltwiese am Ausstieg auf uns warten wird. Der Tavignano führt viel Wasser. Da wir beide allein sind und den Fluss nicht kennen, nehmen wir uns viel Zeit zum Scouten der Stromschnellen. Die Wucht ist erheblich, besonders dort, wo das Wasser in engen Passagen teilweise zwischen senkrechten Felswänden zusammengepresst wird. In Rapids, die Petra zu heftig sind, klettere ich zurück und fahre ihr Kanu nach unten. Der unvermeidliche Kampf mit der Macchia ist dabei kaum zu gewinnen. Einmal trete ich bei der Kletterei im dichten Gestrüpp voll ins Leere und rausche mit dem Kopf voran direkt auf die Steine. “Always wear your helmet!” Ohne ihn wäre das böse ausgegangen. Aber das Paddeln ist schön und spannend.
Folgt man dem Tavignano bis zu seiner Mündung ins Tyrrhenische Meer an der Ostküste Korsikas erreicht man die Stadt Aleria. Gegründet um 565 v.u.Z. von griechischen Seefahrern machten die nachfolgenden Römer Aleria später zur Hauptstadt und größten Stadt dieser Insel. Diese Bedeutung hat sie heute bei weitem nicht mehr, aber die Ausgrabungsstelle der alten Römerstadt ist ein großer Anziehungspunkt. Der Platz liegt auf einer Anhöhe und bietet einen wunderbaren Rundblick. Im Westen begrenzen die hohen Berge, in denen der Tavignano seinen Ursprung hat, den Horizont. Auf der anderen Seite die blaue See und wir können uns gut vorstellen, wie dort einst die Segel der römischen Handelsschiffe auftauchten. Auf dem letzten Stück Weg ans Meer durchqueren wir Korsikas größtes Weinbaugebiet. Schwungvoll rollen die Wellen auf den kilometerlangen Strand. Barfuss spazieren wir durch den kühlen Sand, Petra sammelt dekorative Muschelschalen und wir sind wieder einmal fasziniert von der unglaublich schönen Vielfalt dieser Insel.
Noch einmal auf den Golo. Nachdem ich das Auto an der Brücke in Ponte Leccia abgestellt habe, trampe ich in sengender Hitze im Neoprenanzug nach Francardo und marschiere von dort zum Campingplatz Campita, wo Petra mit den Kanus auf mich wartet. Vor uns liegen wieder Neuland und ein hoher Wasserstand. Wie auf dem Tavignano gehen wir es vorsichtig an. Die ersten Meter verlaufen im “Dschungelfeeling”, da wir uns unter tiefhängenden Ästen ducken müssen. Den “Staubsauger” (WW V) umtragen wir, ohne uns groß aufzuhalten. Nach dem IVer bei Francardo springt der Golo munter und landschaftlich sehr schön durch einige niedrige Konglomerat-Schluchten. Einige Passagen sind bei dem Wasserstand sehr wuchtig, so dass ich wieder beide Kanus nach unten bringe. Die letzte große Schwierigkeit, ein enger Abfall mit pulsierendem Presswasser in der Anfahrt, einer Walze über die ganze Breite und einem nachfolgenden tiefen Loch ist uns ohne die Sicherheit einer erfahrenen Gruppe zu gefährlich. Wir umtragen links und lassen uns dann entspannt zum Ausstieg treiben.
Seit unserer Ankunft lockt mich die nahe Asco-Schlucht. An unserem letzten Tag beschließe ich, zumindest den unteren Teil allein zu befahren. Hier ist der Wasserstand zur Zeit relativ niedrig, so dass ich das Risiko für kalkulierbar halte. Petra begleitet mich mit dem Fotoapparat auf der meist nah verlaufenden Strasse. Hilfe ist freilich kaum möglich. So bleibe ich vorsichtig. Das beginnt schon beim steilen und schweißtreibenden Abstieg in die Schlucht. Der Fluss ist wunderschön und, bedingt durch den niedrigen Wasserstand, stärker verblockt als gewöhnlich. Ich kann nur teilweise auf Sicht fahren. Ansonsten steige ich aus und suche mir die beste Durchfahrt vom Ufer. Zwei Mal treidle ich stark verblockte, steile Abschnitte, wo ich einfach keine freie Passage entdecke. Den letzten Abfall einer längeren Schnelle mit unsauberem Unterwasser überhebe ich kurz, nachdem ich das Mini-Kehrwasser direkt darüber angepeilt habe. Der überwiegende Rest ist Spaß pur!
Der folgende Tag bringt den Abschied. Etwas wehmütig bleibt das Basislager der letzten beiden Wochen hinter uns. In Bastia stellen wir das Auto am Fährterminal ab und nutzen die verbleibende Zeit, um die Altstadt zu erkunden und, etwas pflastermüde, in einem Café auf dem Place Saint-Nicolas auszuruhen.
Am frühen Nachmittag verlassen wir gegen unseren Willen Korsika, im Gepäck zwei Kilo Honig aus Asco, ein kleiner Vorrat an Pietra, dem Kastanienbier, ein paar Kusteln der Laricio-Kiefer, Muschelschalen, Macchia-Zweige, … und jede Menge Erlebnisse und Erinnerungen an unseren ersten Besuch dieser so vielfältigen Perle im Mittelmeer.