Sardinien – Das etwas härtere Trekking

Schuld ist Martin Planckensteiner, Bergführer aus Südtirol, mit dem wir die Große Zinne bestiegen. Oben meinte er: „Der Selvaggio Blu, das wäre auch etwas für euch.“ Nie gehört.

Martin erzählt von lauen Nächten unter freiem Himmel am Mittelmeerstrand, steilen Anstiegen auf scharfkantigem Gestein, dichtem Busch in nahezu weglosem Gelände, Kletter- und Abseilpassagen, … Es gehört nicht viel dazu, unsere Neugier zu wecken, wenn die richtigen Schlagworte fallen. Zu Hause informieren wir uns weiter.

SELVAGGIO BLU – im Original vier Tagesetappen anspruchsvollstes Trekking durch die gewaltigste Steilküste im Mittelmeerraum an der Ostküste Sardininiens zwischen Pedra Longa und Cala Sisine. Mehrere tausend Höhenmeter im Auf- und Abstieg in schwierigem Gelände inclusive Kletterpassagen, die entsprechende Ausrüstung (Bergseil, Klettergurt, Karabiner) und die Kenntnis im Umgang damit erfordern. Die Hauptschwierigkeiten aber sind zum einen die Orientierung, wegen der äußerst spärlichen Trailmarkierung, und zum anderen die Trinkwasserversorgung auf Grund nicht vorhandener Quellen. – Das machen wir!

Auf nach Sardinien

Wir wählen den Spätsommer in der Hoffnung auf erträgliche Temperaturen. Als wir Anfang September in Olbia von der Fähre rollen, empfangen uns “angenehme” 36° Celsius. Die ersten Eindrücke von Sardinien auf dem Weg nach Süden sind noch verhalten. Das ändert sich bald, als wir die Schnellstraße vor Nuoro verlassen und auf unserem Weg zum Meer das Supramonte überqueren. Das Gebirge fasziniert uns mit wilden Kalksteinformationen, über eintausendvierhundert Meter hohen Gipfeln und spektakulären Tiefblicken von der schmalen Passstraße. Nach der Passhöhe Genna Silana (1.017 m) erblicken wir bald den Golf von Arbatax. In Santa Maria de Navarrese finden wir uns schlagartig im Trubel des Badetourismus wieder, obwohl sich die Saison zum Ende neigt. So haben wir auch kein Problem, auf dem Campingplatz Solemar direkt am Meer ein schönes, schattiges Plätzchen für unser Basislager zu finden.

Unsere erste Tour starten wir zeitig am Morgen in der Ortsmitte von Santa Maria de Navarrese. Steil aufsteigend, vorbei an Granatapfelbäumen und Kakteen verlassen wir den Ort. Schließlich steigen wir auf einem schmalen Pfad durch die Macchia, bis wir auf einen breiten Weg stoßen, der unter den felsigen Türmen von Montera Pittaine nach links führt. Schon hier haben wir weite Ausblicke zum Meer und nach einer Weile auch auf das Örtchen Baunei, das malerisch am Berghang unter dem Belvedere liegt. Wir biegen vom Weg ab und kraxeln über eine schottrige Rinne auf den Gipfel des Monte Oro. Oben genießen wir die phantastische Aussicht auf den Golf von Arbatax und die Bergketten des Supramonte. Abstieg zum Pass und durch die Bacu a Muru auf einer geteerten Straße mit 20 Pozent Gefälle hinunter ans Meer. In den umliegenden Steilwänden können wir einige Kletterer beobachten. Unten erwartet uns Pedra Longa, ein eindrucksvoller Felspfeiler, der direkt aus dem Meer ragt. Hier beginnt auch der Selvaggio Blu. Langsam spüren wir die Hitze, kühle Getränke im idyllischen Ristorante erfrischen uns für den Rückweg. Dieser verläuft im Steilhang entlang der Küste und der Sonne ausgesetzt zurück nach Santa Maria de Navarrese, das wir nach gut neunhundert Höhenmetern, rund sechzehn Kilometern Strecke und inzwischen 38° Celsius ziemlich ausgetrocknet erreichen.

Schon zu Hause während der Vorbereitung war uns schnell klar, dass wir den Selvaggio Blu nur mit Hilfe von außen angehen können. In der Touristinfo fragen wir nach, wer uns helfen kann. Nahezu reflexartig und ziemlich eindringlich wird uns zunächst erklärt, wie gefährlich der Selvaggio Blu ist und dass es nicht empfohlen wird, ihn allein zu gehen. Dann drückt man uns einen Flyer von Explorando Supramonte in die Hand. Wir finden das Outdoorunternehmen in einer unscheinbaren Holzhütte im Hafen von Santa Maria. Hier werden Exkursionen verschiedenster Art angeboten, so auch geführte Touren auf dem Selvaggio Blu. Aber auch logistische Unterstützung für Individualisten wie uns. Im Office lernen wir Manuela kennen, zierlich, schwarzhaarig und äußerst kompetent. Mit ihr vereinbaren wir unsere Versorgung mit Trinkwasservorräten und die Rückfahrt per Boot von Cala Sisine. Im Moment ist die See ziemlich rau, was den Booten das Anlanden unmöglich machen kann. Zeitlich sind wir flexibel und die Insel bietet genügend Möglichkeiten, einige Tage zu überbrücken. Wir fahren an die Südspitze Sardiniens und erkunden die Hauptstadt Cagliari mit ihren antiken und mittelalterlichen Sehenswürdigkeiten. Anderntags steigen wir vom Genna Silana-Pass auf einem steilen Pfad über fast achthundert Höhenmeter hinunter in eine der tiefsten Schluchten Europas – die Gola di Gorropu. Unten hat sich der Riu Fiumineddu bis zu vierhundertfünfzig Meter tief in das Gebirge gegraben. Kaum zu glauben, angesichts des momentan nahezu trockenen Flusslaufes. Über Geröll, gewaltige Blöcke und glattpolierte Gumpen erkunden wir die zwischen senkrechten Felswänden immer enger werdende Schlucht, bis das Fortkommen auf und zwischen riesigen Felsbrocken mühsam und nahezu unmöglich wird. Auf dem Rückweg erfrischt uns ein Regenschauer. Das Wetter schlägt um, es wird etwas kühler und die See beruhigt sich. Manuela rät uns noch einen Tag zu warten. Wir baden, flanieren am Strand, faulenzen in der Sonne. Am späten Nachmittag packen wir und portionieren unsere gekauften Trinkwasservorräte mittels Klebeband und beschriften sie. Wir rechnen mit zwölf Liter pro Tag, verteilt in acht 1,5 ltr.-Flaschen. Davon trägt jeder von uns drei Liter auf dem Trail, der Rest ist für den finalen Durst am Tagesziel und zum Kochen. Am Abend bringen wir die Pakete ins Büro zu Manuela. Am jeweiligen Tagesziel werden sie für uns bereit stehen.

Selvaggio Blu – Tag 1

Noch in der Dunkelheit bringt uns am nächsten Morgen ein Taxi hinüber zum Trailbeginn an der Pedra Longa. Unter dem Johannisbrotbaum auf dem kleinen Parkplatz schultern wir unsere Rucksäcke und starten im Schein der Stirnlampe. Über dem Meer im Osten leuchtet ein schnell breiter werdender Streifen Morgenrot. Als dunkler Koloss ragt fast achthundert Höhenmeter über uns die Punta Giradili auf. Da müssen wir hinauf. Auf solidem Weg überwinden wir einen ersten Hügel bis nach gut eineinhalb Kilometern der steile Aufstieg und die Suche nach dem richtigen Pfad beginnen. Der Sonnenaufgang lässt uns innehalten. Für ein paar Minuten bestaunen wir das faszinierende Wechselspiel der Farben beim Übergang der Nacht zum Tag. Sehr steil auf rutschigem Untergrund, immer wieder die richtige Spur im engen Gestrüpp suchend wühlen wir uns zum Beginn des Felsenbandes Sa Cengia di Punta Giradili, das durch die Südwand des Berges nach oben zieht. Obwohl es steil bleibt, fällt uns das Laufen hier leichter. Bei unserer Frühstückspause genießen wir die Tiefblicke zum Meer und zum Pedra Longa. Am Ausstieg des Felsenbandes liegt die Hirtenhütte Us Piggius.

Für wenige hundert Meter verwöhnt uns dahinter ein breite Schotterstrasse, bevor es nach rechts hinauf in die berüchtigten Karrenfelder geht. Diese scharfkantigen Felsen bilden nun größtenteils die ruppige Unterlage für unser Fortkommen und erfordern ständige Konzentration beim Gehen. Ein Fehltritt wird mindestens äußerst schmerzhaft. Dazu versuchen wir ständig, die unregelmäßig verteilten und oft verblassten blauen Punkte zu finden, mit denen der Selvaggio Blu bei seiner Entstehung markiert wurde. Schließlich erreichen wir einen grandiosen Aussichtspunkt. Direkt vor uns stürzt die Steilküste über hunderte Meter zum Meer. Wir orientieren uns auf der Karte. Manuela hatte uns gewarnt: “It is very easy to get lost there.” Die weitere Richtung ist klar. Da drüben ist der Monte Ginnirco, an dessen rundem Gipfelaufbau wir rechts vorbei müssen. Aber es wird trotz GPS-Unterstützung alles andere als einfach in dem dichten Gestrüpp. Wir kommen einfach nicht hin. Unvermutet auftauchende blaue Markierungen weitab vom GPS-Trail bringen uns zusätzlich zur Verzweiflung. Wir versuchen trotzdem, vorwärts zu kommen und uns dabei dem “Trail” wieder zu nähern. Das schaffen wir erst bei der Hirtenhütte Sa Enna ‘e S’Orgiola, wo wir rasten. Kurz danach verlieren wir die Spur erneut. Zeit und Wasservorräte schwinden dahin. Irgendwie finden wir das Holztor in einem Weidezaun aus der Streckenbeschreibung, fast surreal in dem wilden Gelände. Über Felsen steil nach unten. Wahrscheinlich seit Urzeiten helfen sich die Hirten mit geschickt platzierten Wacholderstämmen als Kletterhilfe. Für uns zunächst etwas gewöhnungsbedürftig, aber sie erfüllen ihren Zweck sehr gut. Nach einem zweiten Tor steigen wir im ZickZack auf rutschigem Schotter, später entlang einer Felswand immer tiefer hinab. Hinter der Felswand liegt die Steilküste, es gibt Schwindel erregende Ausblicke. Irgendwann ist der Pfad verschwunden. Wir wissen, dass wir den mit dichter Macchia bewachsenen Steilhang nach links queren müssen und wühlen uns fast mit Wut im Bauch schließlich hinüber, wo es wieder steil einige hundert Höhenmeter hinauf geht, bis wir kletternd über eine Felspassage das nächste Hochplateau erreichen. Von hier oben sehen wir ganz deutlich unser Tagesziel Portu Pedrosu, einen schmalen Einschnitt in der Steilküste. Aber es wird nicht leichter. Im Auf und Ab über Karrenfelder durch zwei Täler, dann tiefes Abklettern, wieder mit Hilfe von Wacholderstämmen, in die Schlucht Bacu Tenadili. Auf der Gegenseite erklettern wir ungesichert eine kleine ausgesetzte Felswand. Für die folgende dreißig Meter hohe Wand legen wir unsere Kletterausrüstung an. Ich steige vor, über zwei Standplätze sichere ich Petra im Nachstieg. Oben erwartet uns ein großer Ölbaum, wo wir Seil und Co. wieder wegpacken. Durch dichten Buschwald zieht sich die immer undeutlicher werdende Spur absteigend in die Länge. Endlich sind wir unten in der tief und schmal eingeschnittenen Bucht Portu Pedrosu. Petra zieht sich gerade einmal die Schuhe aus und läuft wie sie ist ins Meer. Das waren fünfzehn Kilometer in dreizehn Stunden!

Eine geführte Gruppe lagert hier. Sie sind oberhalb der Punta Giradili gestartet und laufen nur mit Tagesgepäck. Alles andere wird von Explorando Supramonte mit dem Boot transportiert. Der Bergführer zeigt uns, wo unsere Wasservorräte stehen. Er kennt den Selvaggio Blu seit über zwanzig Jahren, Verlaufen unmöglich. Wir wären fast neidisch, aber der Durst überlagert alles. Wir saufen wie Kamele, bevor sie durch die Sahara müssen. Erstaunlich, wie schnell die Lebensgeister zurückkehren. Aber es gab auch Blessuren. Im Laufe des Tages bekam Petra zunehmend Schmerzen in den Füßen. Jetzt stellen wir fest, dass sie sich an einigen Zehen Blasen unter den Nägeln gelaufen hat. Wir müssen abwarten, wie das morgen früh aussieht. Die Dämmerung kommt schnell. Wir kochen unser Abendessen und suchen uns ein Schlafplätzchen unter den Sternen, jeder eine Wasserflasche in Reichweite.

Selvaggio Blu – Tag 2

Wenig Erholung in der Nacht. Einige Stechbiester machen uns zu schaffen. Ich bin mit meiner Isomatte sogar ganz nah ans Wasser umgezogen, wo es erträglicher war. Wir frühstücken und packen zusammen. Der heutige Abschnitt ist nicht ganz so lang und nach Rücksprache mit dem Bergführer ist die Navigation einfacher. Trotz der geschundenen Füße will es Petra versuchen. Als wir starten, sitzt die geführte Gruppe noch beim Frühstück. Auf einem deutlichen Weg überwinden wir einen Bergrücken und steigen drüben nach Portu Cuau ab. Ich biege kurz vom Weg ab, um einen Blick in die Bucht zu werfen. Unten fährt gerade ein Motorboot voll Touristen zum Sightseeing in den felsigen Kessel. Sie winken und zeigen in meine Richtung, als ob sie den Yeti entdeckt hätten. Kurzer steiler Aufstieg aus der Bucht. Oben wellt sich das Gelände durch dichte Vegetation und scharfkantiges Kalkgestein. Ab und an entdecken wir einen blauen Punkt, einen Steinmann oder markant in Ästen verkeilte Steine. Haben wir diese erreicht, stellt sich oft genug die Frage: “Und jetzt?” Die nächste Markierung ist nicht in Sichtweite, mehrere vermeintliche Pfade spreizen sich in verschiedene Richtungen in den Busch. Teils sind es Tierwege, teils einfach kurze vegetationsfreie Stellen auf dem felsigen Untergrund. Mit dem GPS-Gerät in der Hand starten wir dann in die unserer Meinung nach wahrscheinlichste Richtung und kehren nach wenigen Metern wieder um, wenn wir merken, dass wir uns vom Trail auf der Anzeige entfernen. Versuch und Irrtum! Das kostet Zeit und Kraft in dem dichten Gebüsch, wo wir uns immer wieder bücken müssen. Trotzdem kommen wir ganz gut vorwärts und machen eine erste Rast an einem wunderschönen Aussichtspunkt direkt am oberen Rand der Steilküste. Unten auf dem Meer ziehen die Ausflugsboote an den senkrechten Felswänden entlang. Es folgt ein langer Abstieg. Wir müssen tief hinunter in ein dicht bewaldetes Tal. Es dauert eine ganze Weile, bis wir den Einstieg in den Schlussabschnitt finden, wo wir über mit Wacholderstämmen abenteuerlich gesicherte Passagen nach unten klettern. Über Felsen kraxeln wir auf der anderen Seite wieder nach oben und erreichen bald die sehr schöne Hirtenhütte Fenos Trainos. Hinauf – hinab, anstrengend geht es im beschriebenen Stil weiter. Wieder gelangen wir an einen luftigen Aussichtspunkt der Steilküste. Unten auf dem Wasserweg wäre unser Tagesziel im Nu erreicht. Wir aber wenden dem Meer den Rücken zu und steigen steile dreihundert Höhenmeter über Karrenfelder in der Mittagshitze auf, bis wir endlich am höchsten Punkt bei der Hirtenhütte Su Runcu ‘e su Pressu sind. Mitten auf dem folgenden langen Abstieg biege ich rechts ab, laufe und klettere zum ein Viertelstündchen entfernten Aussichtsberg Punta Salinas. Petra wartet am Weg, sie hat sich nichts anmerken lassen, aber es ist doch grenzwertig mit ihren Füßen.
Der Ausblick von Punta Salinas ist schlicht spektakulär. Das Auge folgt dem Lauf der Steilküste bis Cala Gonone. Links darüber die Bergwelt des Supramonte. Und vor allem: Der Blick auf die Bucht von Cala Goloritze mit den gewaltigen Felsnadeln, unser fünfhundert Höhenmeter tiefer liegendes Tagesziel. Die “Navigation” dahin ist einfach. Der Pfad nach unten ist gut ausgetreten und steil. Als wir unter der Punta Caroddi, der einhundert Meter hohen Felsnadel stehen, müssen wir den Kopf weit in den Nacken legen. Knapp unter der Spitze erkennen wir zwei Kletterer. Wenig später lassen wir die Rucksäcke erleichtert in den Sand der traumhaft schönen Bucht Cala Goloritze fallen. Noch ist der Strand gut gefüllt mit Tagestouristen. Sie alle haben noch einen steilen Aufstieg nach Su Porteddu vor sich, dass man über eine Schotterpiste mit dem Auto von Baunei erreichen kann. Wir genießen es, nach dem Ritt in der Sonne zu liegen und ab und zu ins Meer zu springen. Am frühen Abend wird es still. Wir kochen unser Abendessen am Fuß der Punta Caroddi und suchen uns danach ein Plätzchen mit schönem Ausblick zum Schlafen. Die körperliche Bestandsaufnahme sieht nicht gut aus. Die Blasen an Petras Zehen sind nicht besser geworden, ich scheine mir eine Erkältung eingefangen zu haben. Kopfschmerz, Nase zu, Halsweh.

Abbruch

Nach einer Nacht, in der wir wieder von Stechmücken geplagt werden, treffen wir eine schwere Entscheidung: Abbruch! Zwar haben wir bereits mehr als die Hälfte des Selvaggio Blu geschafft, aber die Reststrecke ist keinen Deut leichter. Wenn sich unser Zustand weiter verschlechtert, können wir unterwegs in ernste Probleme kommen. Petra hat Schmerzen bei jedem Schritt und ich fühle mich schlapp und kraftlos. Am frühen Morgen kommt das Motorboot, um das Gepäck der geführten Gruppe aufzunehmen und zusammen mit frischen Wasservorräten zum nächsten Tagesziel zu bringen. Mit ihm können wir zurück nach Santa Maria de Navarrese fahren.

“Wunden lecken” in Form von Blasen aufstechen, Arznei schlucken, Ausruhen in unserem Basislager in Solemar. Am zweiten Tag kehrt der Unternehmungsgeist vorsichtig zurück. Wir mieten uns ein kleines Motorboot und kreuzen hinüber bis zur Halbinsel von Arbatax und dann die imposante Steilküste entlang Richtung Norden. Diese Landschaft ist wirklich gewaltig. Etwas wehmütig schauen wir hinauf, wo der grüne Streifen der Macchia den weißen Fels vom blauen Himmel trennt und erkennen Stellen, an denen wir oben standen und Momente hatten, wo wir uns in so ein Boot auf’s Meer gewünscht haben. Jetzt ist es umgekehrt.

Gola di Pirincanes

Tags darauf sind wir wieder zu Fuß unterwegs. Auf einer kleinen, aber ausgesprochen schönen Tour wandern wir in Sandalen durch die Gola di Pirincanes. Die imposante Schlucht mit ihren rötlichen Granitfelsen liegt unterhalb des Stausees Lago Alto del Flumendosa. Nicht zuletzt dadurch hat der Riu Calaresu, der die Schlucht durchfließt, ganzjährig Wasser. Nachdem wir zunächst einen kleinen Bergrücken überwunden haben, furten wir unten den Fluß und wandern auf Sandbänken, Kiesstreifen und im Flussbett in die sich verengende Schlucht. Gleich zu Beginn erkunden wir einen wunderschönen Nebencanyon, wo das Wasser des Riu ‘e Forru in einer Folge mehrerer kleiner Wasserfälle herabstürzt – den Cascate Pirincanes. Etwas übermütig klettern wir barfuß über den nassen Fels bis zum obersten Gumpen, der vom höchsten Wasserfall gespeist wird und malerisch in der Sonne funkelt. Das Abklettern wird zum Balanceakt. Im Folgenden wird die Gola di Pirincanes immer enger, meist laufen wir im Flussbett. Immer wieder vertieft sich dieses zu herrlichen Badebecken; welch ein Kontrast auf dieser meist trockenen und heißen Insel. Wir wandern, bis sich die Schlucht wieder öffnet, dann drehen wir um, suchen uns einen idyllischen Badegumpen, wo wir rasten und uns erfrischen, bevor wir uns auf den Rückweg machen.

Die Gola di Pirincanes liegt in der urwüchsigen Berglandschaft der Ogliastra südlich des Supramonte. Wir nutzen die Gelegenheit, um etwas mehr von ihr kennenzulernen. Unübersehbar und eindrucksvoll ragt südwestlich des Stausees der Monte Perda Liana in den Himmel. Ein Felsblock, von dem man meinen könnte, dass er eigentlich ins Monument Valley in Arizona gehört. In der Nähe von Lanusei befindet sich die archäologische Fundstätte von Seleni, die aus einer Nuraghe mit Hüttenfundamenten und zwei Gigantengräbern besteht. Die Nuraghier bevölkerten die Insel ab dem 2. Jahrtausend v.Chr. Die späteren Sarden hielten sie auf Grund der Dimensionen ihrer Grabanlagen für Riesen. In Wirklichkeit waren es Gemeinschaftsgräber, in denen bis zu zweihundert Verstorbene bestattet wurden. Hoch an einem Berg scheint das idyllische Dorf Ulassai zu hängen. Die zahlreichen senkrechten Felswände in der unmittelbaren Umgebung des Örtchens sind ein Eldorado für Kletterer. Noch einige steile Serpentinen über Ulassai befindet sich der Eingang zur Grotta Su Marmuri, eine der größten und wohl auch schönsten Höhlen im Mittelmeerraum. Wir erleben hier eine sehr lebhafte und informative Führung, während der wir über einen Kilometer tief in den Berg eindringen und die unglaublich facettenreichen und farbintensiven Tropfsteingebilde, mal in Miniaturgröße, mal bis zu zwanzig Meter hoch, bewundern können.

Die “kleine” Gorropu-Schlucht

Die letzte Tour, für dieses Mal. Wir haben uns dafür ein besonderes Highlight im Supramonte aufgehoben. Die Serra Oseli ist ein malerisch schöner, kleiner Gebirgszug, den im Norden die Gola di Gorroppeddu von der Costa d’Esone trennt. Den Startpunkt, den 862 m hohen Genna Erbiddorei, erreichen wir nach einigen Kilometern Fahrt über eine einsame Schotterpiste. Beim Aussteigen begrüßt uns eine kleine Rotte frei laufender, halbwilder Hausschweine. Wir steigen ab bis zum Fuß des steilen Osthangs der Serra Oseli und folgen dem Höhenzug parallel im Tal nach Norden bis zum Pass Genna Ostuno. Hier verlassen wir den Weg und klettern hinauf auf den Kamm der Serra Oseli. Oben genießen wir den weiten Rundblick von einem luftigen Aussichtspunkt. Das Kontrastprogramm folgt unmittelbar. Zurück am Pass laufen wir durch dichten Steineichenwald bergab. Bevor der Weg wieder ansteigt, verlassen wir ihn nach links hinunter und stehen nach kurzer Zeit am Eingang der Gola di Gorroppeddu. Wir legen unsere Kletterausrüstung an und seilen uns über mehrere Längen durch die steile Schlucht nach unten. An der engsten Stelle ist sie keine drei Meter breit, während die senkrechten Felswände mehr als hundert Meter aufragen. Unten auf der Westseite des Gebirgszuges setzen wir unseren Weg nach Norden fort. Unter einer mächtigen Felswand finden wir die Wacholderzäune der Schäferstallung Cuile ‘e Ghirovai. Hier müssen wir rechts hinauf klettern. Fast fünfzig Meter über der Stallung hilft uns die Scala ‘e Fustes, eine Hirtenleiter aus Wacholderstämmen und Steinen, schließlich auf ein felsiges Plateau. In Gelände, dass an die Karrenfelder am Selvaggio Blu erinnert, wandern wir bergauf bis zum Passo di Punta Turusele. Von hier können wir entspannt auf breitem Weg und mit weiten Ausblicken zurück zu unserem Startpunkt laufen.