Nach einer letzten Stärkung im Angesicht des Matterhorns auf der Terrasse des Hotels Alpenrose in Zermatt schultern Petra und ich die Rucksäcke für den kurzen Weg hinüber zur Talstation der Seilbahn hinauf zum Kleinen Matterhorn.Kurzfristig haben wir dort oben eine Übernachtung gebucht, weil wir morgen zeitig los wollen. Bei der Auffahrt über Schwarzsee kommt man dem Matterhorn ziemlich nah. Deutlich erkennen wir die Hörnli-Hütte und den dahinter aufsteigenden gleichnamigen Grat. Umsteigen am Trockenen Steg in die große Gondel. Wenig später sind wir oben im Matterhorn Glacier Paradise auf 3.883 m. Eine Angestellte des Restaurants bringt uns nach oben in die Unterkünfte. Im Laufe des späten Nachmittags kommen noch einige Bergsteiger, aber es bleibt viel Platz. Verpflegung haben wir für den ersten Tag selbst dabei, eine gut eingerichtete Küche ist vorhanden. Die Idee, bereits heute das Breithorn zu besteigen, müssen wir begraben. Das Wetter hat sich von anfänglichem Sonnenschein zu stürmischem Wind mit Nebel, Wolken und Schneefall entwickelt.
Die Nacht wird kurz. Um 4.30 Uhr starten die Ersten, draußen ist es stockdunkel und neblig. Keine Stunde später ist ein Pärchen zurück. Null Sicht. Wir waren gerade im Aufbruch und beschließen, zu warten. Der obere Teil des Matterhorns schwebt über den Wolken, auch der Blick hinunter nach Cervinia ist frei, nur Richtung Osten wird alles vom Nebel verdeckt. Allerdings ist die Wettervorhersage positiv und tatsächlich klart es allmählich auf. Gegen acht Uhr können wir endlich los. Wir legen die Steigeisen an, binden uns ins Seil und marschieren ein kurzes Stück auf der Skipiste, bis wir in weitem Bogen nach links zum Breithorn-Westgipfel abbiegen. Unser Tempo ist bewußt gemächlich, wir haben Respekt vor der ungewohnten Höhe. Als der Gipfelhang aufsteilt, kürzen wir den Seilabstand und folgen der Spur, die sich links um den Hang nach oben zieht. Bald stehen wir oben auf 4.164 m und genießen trotz immer noch vieler Wolkenfelder eine phantastische Aussicht. Für den Abstieg überschreiten wir den Westgipfel auf seinem schmalen Kamm. Links und rechts geht es tief hinunter. Wir zwingen unseren Blick in die Trittspur vor uns, bis wir den Sattel zwischen West- und Mittelgipfel erreichen. Dort steigen wir wieder nach Süden ab und biegen schließlich in die Spur nach Osten. Vor uns liegen jetzt die Brüder Pollux (4.092 m) und Castor (4.228 m). Unter dem lang gezogenen Breithorn, Roccia Nera und Schwarztor erreichen wir nach einem Gegenanstieg den Fuß des Pollux. Eigentlich wäre noch locker Zeit für den Aufstieg, aber inzwischen ist der Himmel blau, die Sonne knallt herab und der Schnee wird immer weicher. Außerdem sind wir nicht akklimatisiert und wollen es am ersten Tag nicht übertreiben. Wir steigen ab zum Rifugio Guide della Val d´Ayas (3.420 m). Reserviert haben wir trotz Hochtouren-Saison nicht, bekommen aber zwei Betten auf dem Treppenabsatz oben im zweiten Stock. Hier ist zwar einiges an Traffic, aber wir haben mehr Platz als im normalen Lager, auch als noch zwei Inzeller kommen, die die Betten über uns belegen. Von ihnen erfahren wir, dass der Aufstieg auf den Pollux im weichen Schnee, insbesondere im Bereich der Fixseile, extrem mühsam war. Außerdem war es in dieser Engstelle fast zu einem Unfall gekommen, als ein Kletterer seinen Eispickel verlor und nur mit viel Glück nachfolgende Bergsteiger nicht ernsthaft verletzt wurden. Die beiden wollen morgen über das Breithorn zurück und anschließend das Matterhorn von der italienischen Seite besteigen!
Als ich nach dem Abendessen in den Waschraum gehe, denke ich zunächst, ich träume. Da steht tatsächlich ein Steinbock und schaut zum Fenster herein, später sind es zwei. Wahrscheinlich die Hygiene-Inspektion 🙂 .
Dank Ohrstöpseln gibt es auch Schlaf in der Nacht. Als wir um fünf Uhr aufstehen, sind die ersten schon weg. Wir frühstücken in Ruhe. Während wir draußen auf der Terrasse die Ausrüstung anlegen, schauen wir auf ein Wolkenmeer unter uns. Im Osten leuchtet der Himmel im Morgenrot und über uns thronen eisig die Gipfel von Castor und Pollux. Es wird ein steiler Anstieg bis knapp unter das Zwillingsjoch zwischen den beiden Brüdern. Die Morgenstimmung und die Ausblicke bis zu Gran Paradiso und Mont Blanc sind unbeschreiblich. Vor uns ragt der Ehrfurcht einflößende Steilhang zum Gipfel des Castor auf. Wir nehmen das Seil zwischen uns wieder kurz, die Trekkingstöcke kommen an den Rucksack, der Eispickel in die bergseitige Hand. Mit seiner Hilfe und den Steigeisen arbeiten wir uns nach oben. Die Zacken greifen gut, der Hang ist um diese Zeit noch hart gefroren. Es wird so steil, dass wir zeitweise mit Händen und Füßen steigen. In einer Blankeis-Passage geht mein Atem deutlich kürzer. Im Zickzack zwischen einigen Spalten gewinnen wir Höhe, bis wir schlussendlich die Randspalte vor der steilsten Passage überwinden und wenig später oben am Beginn des Gipfelgrates in der Sonne stehen. Wunderschön! Wir schnaufen kurz durch und setzen dann Schritt für Schritt auf den schmalen Kamm hinauf zum Gipfel, wo wir die großartige Rundsicht genießen. Mit der gebührenden Aufmerksamkeit trotz der traumhaften Aussicht steigen wir über den Südostgrat ab zum Felikjoch und von dort hinab zum Rifugio Quintino Sella (3.585 m). Dort bekommen wir ein geräumiges Lager im Obergeschoss des Winterraumes, welches wir lange für uns allein haben. Da draußen aus dem Tal aufsteigender Nebel die Hütte verhüllt, holen wir etwas Schlaf nach und vor. Beim Abendessen ist die Hütte gerappelt voll, aber in unserem Lager bleibt über Nacht noch Platz.
Mit unserer Morgenroutine sind wir wieder gegen sechs Uhr startbereit. Das Wetter ist schön, wieder begleitet uns das Morgenrot auf dem ersten, verhältnismäßig flachen Anstieg. Direkt vor uns baut sich eindrucksvoll der Liskamm (Westgipfel 4.479 m / Ostgipfel 4.527 m) auf. Seine Überschreitung ist eine sehr luftige und lange Angelegenheit. Scheinbar einfacher, in jedem Fall um einige Höhenmeter tiefer ist die Überschreitung des vorgelagerten Naso del Liskamm (4.272 m) um hinüber ins Aostatal zu kommen. Allerdings wird dessen Westflanke immer steiler, je näher wir ihr kommen. Tatsächlich erwartet uns dort nahezu das volle Programm. Zunächst eine felsige Kletterpassage. Ich nehme die Hälfte des 50-m-Seils um den Oberkörper und beginne mit dem Vorstieg. Es hat einige Sicherungshaken, an denen ich Stand mache und Petra jeweils nachhole. Am letzten Haken beginnt über uns ein gefrorener Steilhang. Mit Pickel und auf den Frontalzacken steige ich vor bis Petra “Seil aus” ruft und setze dann eine Eisschraube, an der ich Petra sichere, bis sie aufgeschlossen hat. Das wiederholt sich dreimal, dann legt sich der Hang allmählich zurück. Ich sichere nochmal über den eingerammten Eispickel, dann können wir frei zum Gipfel steigen. Oben erwartet uns eine traumhafter Blick. Tief hinter uns im Tal das Rifugio Quintino Sella, weit am Horizont Gran Paradiso und Mont Blanc. Da ist der Castor und nach Norden begrenzt der mächtige Liskamm die Sicht. Auf der anderen Seite reihen sich die Viertausender von der Vincentpyramide bis zur Dufourspitze, den höchsten Gipfel der Schweiz (4.634 m), nebeneinander. Auch das Rifugio Gnifetti (3.647 m), unser eigentliches Tagesziel, entdecken wir unterhalb der Vincentpyramide. Aber wir beschließen hier eine Planänderung. Übermorgen soll das Wetter umschlagen, wenn wir Pech haben, hängen wir dann fest. Auch wenn es eine knackige Angelegenheit wird, entscheiden wir uns, noch heute zur höchsten Berghütte Europas, der Capanna Regina Margherita, auf der 4.554 m hohen Signalkuppe aufzusteigen. Zunächst müssen wir rund dreihundert Höhenmeter talwärts. Unten stärken wir uns ein wenig und erneuern die Sonnenschutzauflage. In den folgenden reichlichen drei Stunden steigen wir auf zum Colle del Lis (4.246 m), auf der anderen Seite etwas sanfter wieder bergab in das obere Becken des Grenzgletschers, dann den deftigen Anstieg hinauf zur scheinbar so nahen Hütte, der zum Schluss gefühlt senkrecht wird. Oben sind wir glücklich, auch wenn ein scharfer Wind weht und einige Wolkenfelder die Aussicht behindern. Die Capanna ist toll. Unglaublich, auf die Idee zu kommen, hier oben eine Hütte zu bauen und diese Idee auch noch umzusetzen. Natürlich sieht die Normalität hier etwas anders aus. So gibt es generell kein Wasser, außer in Flaschen zu kaufen! Umso mehr werden wir von einem fulminanten Abendessen überrascht, dem mit Abstand besten auf der Tour. Zum Sonnenuntergang gibt es Licht- und Wolkenspiele, immer wieder tauchen Gipfel auf und verschwinden, ein Halo zaubert geisterhaft Figuren auf die neblige Leinwand, die im Osten hinter der Hütte wabert.
Die Nacht wird stürmisch. Offensichtlich ist das Rifugio gut verankert, sonst wäre es bei den noch viel stärkeren Stürmen, die hier oben toben, schon längst in seinen Einzelteilen davon geflogen. Wir lassen uns etwas mehr Zeit als gewöhnlich, weil wir den Sonnenaufgang genießen wollen. Und wir werden nicht enttäuscht. Der Sturm hat den Himmel blank gewischt. Nur die Täler auf der italienischen Seite liegen unter einer tief hängenden Wolkendecke. Müßig, all die Gipfel aufzuzählen, als das Schauspiel beginnt. Es beeindruckt uns tief und ist der Höhepunkt unserer Tour!
Aber auch der folgende Abstieg wird spannend. Dick vermummt beginnen wir ihn im eiskalten Sturm auf unserer Aufstiegsroute von gestern, bis wir nach rechts auf den Grenzgletscher abbiegen und einer schmalen Spur folgen. Im oberen Teil des Gletschers nimmt uns das atemberaubende Panorama gefangen. Links die gewaltigen, mit Seracs behangenen Steilwände des Liskamm, auf der rechten Seite die mächtigen Ausläufer der Dufourspitze. Eingerahmt davon voraus das Matterhorn als zentraler Mittelpunkt vor den benachbarten Riesen. Weiter unten beginnen die Spaltenzonen, der Gletscher wird immer zerrissener. Wir konzentrieren uns auf die sichere Wegfindung zwischen und über gewaltigen Spalten. Gestern gab es hier im weichen Nachmittagseis einige Spaltenstürze, bei denen zum Glück nichts passiert ist. Jetzt ist alles noch hart gefroren, aber die Schneebrücken sind teilweise dünn und es bleibt ein grusliges Gefühl, besonders, wenn wir springen müssen. Die Neue Monte Rosa Hütte liegt hinter einem Felsriegel, vor dem wir die Gletscherausrüstung ablegen und dann zur Hütte absteigen. An diesem exklusiven Platz gönnen wir uns eine ausgiebige Rast mit Blick auf die uns nach wie vor tief beeindruckende Landschaft. Ausgeruht folgt der Abstieg über viel Geröll hinunter zum Gorner-Gletscher, den wir nun wieder aufsteigend queren. Auf einem schwankenden Holzsteg überwinden wir den Übergang vom Gletscher zur begrenzenden Felswand und klettern über Leitern und Seilversicherungen nach oben. Auf dem gemütlichen Wanderweg zur Station Rotenboden lässt uns ein dumpfes Grollen herumfahren. Unter dem Westgipfel des Liskamm ist ein Serac herab gebrochen und donnert als gewaltige Lawine auf den Grenzgletscher. Nach mehr als 2.200 Höhenmetern Abstieg mit über 500 Höhenmetern Gegenanstieg erreichen wir die Station Rotenboden der Gornergratbahn, die uns zurück nach Zermatt bringt. Am Nachmittag sitzen wir gemütlich unter unserer Tarp auf dem Campingplatz Randa, während der beginnende Dauerregen auf die Plane prasselt …