Vom Kaunertal durch die Silvretta zum Piz Palü

Die Anfahrt von der Mautstelle hinter Feichten bis zum Kaunertaler Gletscherskigebiet zieht sich in die Länge. Wir sind die ersten, die ihr Auto auf dem höchstgelegenen Parkplatz beim Gletscherrestaurant im leichten Schneegestöber abstellen. Es ist Karfreitag und die Ostereier liegen unter einer beachtlichen Menge Neuschnee versteckt.
Von hier wollen wir per Ski die Weißseespitze (3.510 m) besteigen, die ab und zu über den Pisten aus den Wolken lugt. Start auf der Piste zur Bergstation des Schleppliftes Nörderjoch I. Ab hier geht es ins Gelände, der zweite Schlepplift zum Nörderjoch ist seit einem Lawinenabgang vor einigen Jahren nicht mehr in Betrieb. Wir überholen zwei Snowboarder, die mühsam nach oben stapfen. Am Nörderjoch erkennen wir schnell, dass der weitere Aufstieg über den felsigen Grat auf der rechten Seite bei den Bedingungen zu gefährlich ist. Inzwischen haben auch die Snowboarder den Pass erreicht. Die beiden wollen von hier durch das Gelände hinunter zum Fernergarten. Kurzer Aufstieg – lange Abfahrt! Die frisch verschneiten Hänge unter uns sehen gewaltig aus. Alex und Bernd haben nichts dagegen, dass ich mich anschließe. Petra fährt in sicherer Spur zurück ins Skigebiet, wo wir uns später wieder treffen. Für mich folgen elfhundert Höhenmeter Freeride vom Feinsten! Die Jungs kennen sich gut aus und meiden geschickt die von Lawinen gefährdeten Abschnitte. Unbeschwert kann ich es laufen lassen.
Nieselregen und bedeckter Himmel in Feichten am nächsten Morgen – wird wohl ein Pistenskitag werden. Ab dem Gepatsch-Stausee plötzlich blauer Himmel. Klappt also doch mit unserer Skitour zum Glockturm. Wir stellen das Auto am kleinen Parkplatz zum Riffeltal ab und beginnen unseren Aufstieg. Zwei Tourengeher vor uns waren so nett, uns eine Spur in den Neuschnee zu legen. Ansonsten kein Mensch unterwegs. Traumhaft schöner Aufstieg bis in die Scharte rechts vom Gipfel. Auf Grund der Lawinensituation schenken wir uns den Rest. Nur kurz genießen wir die Aussicht in der warmen Sonne, dafür umso länger die Abfahrt im Neuschnee zurück zum Ausgangspunkt.

Wir ziehen weiter, hinunter ins Inntal und folgen dort dem Fluss stromauf ins Unterengadin. Bekannte Namen ziehen draußen vorbei: Martina, Sur En, Scuol, Ardez, … Der Inn, den wir hier aus der Kanu-Perspektive als knackigen Wildwasser-Klassiker kennen, führt kaum Wasser. Bald wird die Schneeschmelze einsetzen und da unten das Chaos ausbrechen. Vor Lavin biegen wir rechts ab. Steil schlängelt sich die schmale Straße hinauf nach Guarda, wo wir das Auto auf dem öffentlichen Parkplatz einige hundert Meter vor dem Ort abstellen. Wir haben Zeit und genießen den Rundgang durch das urige Bergdorf inclusive Cappuccino-Stärkung, bevor wir direkt am Parkplatz unsere Skier anschnallen und den Aufstieg durch das Val Tuoi beginnen. Über einige Kilometer ist die Route als breiter Winterwanderweg präpariert. Unbeschwert schlurfen wir bergauf und genießen die Ausblicke. Kurz vor der Alp Suot verengt sich die Bahn zur klassischen Aufstiegsspur, die voraus im Nebel verschwindet. Zusätzlich beginnt es zu schneien. Zunächst haben wir keine Schwierigkeiten, der Spur zu folgen. Als der Schneefall stärker wird und Wind aufkommt, wird der Track schnell zugeweht. Zum Glück ist der Weg mit roten Markierungsstangen gekennzeichnet. Geradeso erkennen wir im zunehmenden Whiteout jeweils die nächste. Bis auf eine, die fehlt. Wir laufen nach Gefühl weiter und atmen auf, als wieder eine Markierung auftaucht. Unser Ziel, die Camana Tuoi, erreichen wir am Nachmittag. Trotz des Wetters füllt sich die Hütte bis zum Abend. Es ist Oster-Sonntag und für morgen ist Wetterbesserung angesagt. Geselliger Abend in der vollen Gaststube. Wir tauschen uns mit drei jungen Vorarlbergern, die über die Dreiländerspitze herunter gekommen sind, über Touren im Montafon aus.
Sechs Uhr Frühstück. Draußen ist es kalt und klar. Keine Stunde später treten wir vor die Tür. Über uns leuchten die Spitzen des Piz Buin und des Buin Pitschen im Sonnenlicht. Gewaltig! Die Ersten legen schon eine frische Spur in den unberührten Steilhang zum Plan Rai. Wir fellen auf, rutschen die paar Meter von der Hütte in den Grund und beginnen unseren Aufstieg in Spitzkehren. Mit dem Ende des Steilhanges erreichen wir auch die Sonne. Angenehm flach queren wir die Hochfläche, bevor wir den felsigen Plan Mezdi in einem steilen Anstieg links liegen lassen. Oben orientieren sich zwei junge Schweizer an Hand ihrer Landkarte. Wir werfen einen Blick mit darauf. “Die Karte gehört auch pensioniert, die ist schon achtzehn Jahre alt.”, meint einer fast entschuldigend. Das alles noch auf Schwyzerdütsch, wir können uns das Lachen kaum verkneifen. Aber es reicht, um rechter Hand den steilen Hang hinauf zur Fuorcla dal Cunfin zu identifizieren. Dort oben haben wir einen wunderschönen Blick auf den Ochsentaler Gletscher und unser Ziel, den Piz Buin, an dessen Gipfelhang einige Bewegung ist. Ohne Abzufellen fahren wir hinunter auf den Gletscher und queren hinüber zur Buin Lücke. Skidepot, Steigeisen an die Füße, Eispickel in die Hand. Für alle Fälle lege ich mir noch das Kletterseil um den Oberkörper. Schnell sind wir oben am Beginn des Felsgrates. Vom ersten Kamin hängt ein dickes Fixseil herunter, das wir im weiteren Aufstieg nicht benutzen. Vor der sogenannten Schlüsselstelle, dem zweiten Kamin, gibt’s Stau. Dafür reicht es schon, wenn einige wenige mit den Schwierigkeiten überfordert sind. Wir binden uns ins Seil und wählen die linke, etwas luftigere Rinne. Trotz Gegenverkehr einer geführten Gruppe umgehen wir den Stau und sind nach dem unschwierigen, steilen Gipfelhang sogar allein am Gipfel. Obwohl kalte Windböen an uns zerren, genießen wir den weiten Rundblick bis zum Piz Palü am südlichen Horizont. Wenn alles klappt, wollen wir am Ende der Woche dort oben stehen. Wieder/immer noch Stau an der Schlüsselstelle als wir absteigen. Wir umgehen das Ganze wieder auf unserer Aufstiegsroute und sind bald unten in der Buin Lücke. Lange Abfahrt auf dem Ochsentaler Gletscher. Wir können es laufen lassen. Erst in tieferen Lagen ist die Oberfläche zunehmend verharscht. Immer wieder bleiben wir stehen und genießen den Blick auf diese wunderschönen Berge. Nach einer Querung mit einem Gegenanstieg gleiten wir schließlich bis vor die Wiesbadener Hütte.

Der nächste Tag bringt Wolken und noch mehr Wind. Warm eingepackt starten wir Richtung Vermuntgletscher. Silvrettahorn, Piz Buin – die Berge rechts von uns hüllen ihre Gipfel in wabernde Wolken. Das charakteristische Dreieck der Dreiländerspitze voraus liegt frei. Da wollen wir hin. Der Aufstieg beginnt sehr moderat und steilt kontinuierlich immer mehr auf. Schließlich stehen wir am Fuß des steilen Gipfelhanges. In langen Spitzkehren steigen wir auf. Die letzte Querung zum Skidepot am Beginn des Gipfelgrates wird ein kleiner Balanceakt. Die vorhandene Spur hat sich nur wenige Zentimeter in den harten, abgeblasenen Hang gedrückt. Eine Gruppe vor uns bricht hier ab. Konzentriert tasten wir uns hinüber. Auf dem schmalen Absatz stehen schon einige Skier. Ein Blick Richtung naher Gipfel. Nix zu sehen! Inzwischen verhüllen die Wolken auch hier alles. Wir müssen nicht lange überlegen. Der weitere Aufstieg lohnt unserer Meinung nach nicht. Mit der gebotenen Vorsicht ziehen wir die Felle ab und schnallen die Skier wieder an. Trotz des harten Untergrundes haben wir eine griffige Abfahrt den Gipfelhang hinab und hinüber zur Oberen Ochsenscharte. Hier gelangen wir auf den Jamtalferner. Die Gipfel bleiben in Wolken, aber der Blick in das gewaltige Tal ist frei. Wir haben viel Raum unsere eigene Linie zu suchen. Immer wieder müssen wir allerdings stehen bleiben, um heran rasende Sturmböen abzupassen, die uns von den Beinen holen wollen und deren Eiskristalle uns das Gesicht massieren. Nach einer langen Abfahrt über insgesamt mehr als 1.100 Höhenmeter schlürfen wir genüßlich heiße Suppe in der großen Jamtalhütte. Nachts erschallen in unserem Lager plötzlich klar und deutlich einige Kommandos. Kein Gefechtsalarm! Da phantasiert nur einer mit einer offensichtlich militärischen Vergangenheit.
Das Wetter ist eine Kopie des vorherigen Tages. Kalt, windig, die Berggipfel zumeist in Wolken, ab und zu schaut die Sonne vorbei, ohne in dem kalten Wind zu wärmen. Beim tiefen Start an der Jamtalhütte hält sich der Wind aber noch zurück. Wir genießen den Aufstieg und die Aussicht. Wir steigen wieder auf zur Oberen Ochsenscharte und queren unter der Dreiländerspitze hinüber zum Vermuntjoch. Der schmale Pass zwischen Piz Buin und Piz Mon ist zum Windkanal mutiert. Ohne sich aufzuhalten dröhnen die Böen vom Tuoi-Tal über die Grenzlinie nach Österreich. In der kleinen, ehemaligen Zollhütte knapp oberhalb des Passes finden wir Schutz, um uns zu stärken und auf Abfahrtsmodus umzurüsten. Auf der folgenden Abfahrt zur Tuoi-Hütte gelangen wir nach wenigen Höhenmetern aus dem Wind. Gleich wird es deutlich wärmer. Der tiefe Neuschnee der letzten Tage hat sich schon etwas gesetzt und erfordert mehr Kraftaufwand beim Schwingen. Von den steilen Hängen des Piz Mon auf der linken Seite ziehen frische Lawinenstriche herunter. Wir halten respektvoll Abstand. In der Camana Tuoi bleibt diesmal viel Platz. Im Lager können wir vier Betten für uns und unsere Ausrüstung okkupieren.

Frisch verschneit präsentieren sich in der Früh die Hüttenterrasse und die umliegenden Hänge. Darüber blauer Himmel mit weißen Wolken, die ab und an gerade so die Gipfel der Dreitausender streicheln. Vor uns liegt ein sehr entspannter Tag. Heute verlassen wir die Silvretta. Abfahrt nach Guarda. Bis hier herunter reicht der Neuschnee nicht. Im Gegenteil, sind doch die Wiesen deutlich aperer geworden. Trotzdem gelangen wir im ZickZack von Schneefleck zu Schneefleck bis fast zum Parkplatz. Wir verstauen Skier und Rucksäcke im Auto und ohne uns umzuziehen rollen wir hinunter ins Inntal. Das nächste Nahziel heißt ausgiebige Körperpflege. Lavin, Susch, Zernez, … im Sightseeing-Modus fahren wir flussaufwärts. Der Campingplatz Chapella oberhalb von Cinuos chel scheint für Dauercamper geöffnet, aber es ist niemand da und der Sanitärbereich ist verschlossen. In der Touristinfo von Zuoz hilft man uns sehr freundlich weiter und ruft im Camping Madulain an. Der hat noch bis Sonntag geöffnet und wir können dort duschen. Ausgiebig machen wir davon Gebrauch, kaufen uns danach im Migrolino in Samedan einige Lebensmittel und genießen schließlich auf einer sonnigen Bank neben der Loipe zwischen Samedan und Pontresina den Ausblick und die Leckereien. Später schlendern wir durch Sankt Moritz. Mitten im Ort liegt das Hotel Hauser mit seiner öffentlichen Terrasse. Nun sind wir sicherlich nicht das typische Klientel für den Nobelort. Trotzdem hat Sankt Moritz für mich eine besondere Bedeutung. Als ich mich als junger Skispringer erstmals mit meinen Leistungen für einen Start im “nichtsozialistischen Wirtschaftsgebiet” (so der damalige offizielle Sprachgebrauch) qualifiziert hatte, ging es gleich zur Schweizer Springerwoche, einer Tournee, die ihren Auftakt in Sankt Moritz hatte. Mit Kleinbussen vom Flughafen Klothen/Zürich abgeholt, kamen wir am Abend über den Julierpass hinunter nach Sankt Moritz. Ich hing fasziniert am Fenster. Draußen glitzerte und leuchtete der Ort über dem zugefrorenen See und der imposanten Bergkulisse. Neben mir Axel, der das vor mir schon kennengelernt hatte. Ganz trocken sagte er in unserem Lauschaer Dialekt: “Nu, sennst na(*), in faulenden und modernden Kapitalismus.” Im Hotel Hauser waren wir damals untergebracht. Am Nachmittag fahren wir Richtung Berninapass bis zur Talstation der Diavolezza-Seilbahn. Auf dem Gaskocher erhitzen wir Wasser, dann gibt es Abendessen – Trek ‘n Eat. Heißes Wasser in die Tüte mit dem gefriergetrockneten Gericht, zehn Minuten warten, fertig. Schmeckt und macht richtig satt. Draußen hat es begonnen zu schneien. Beizeiten krabbeln wir in die Schlafsäcke.
Am Morgen bleiben wir lange liegen. Draußen hat es -7°C, der Himmel ist blau, aber wir sind noch im Schatten und haben Zeit. Keine Lawinengefahr heute. Vor uns liegt der Aufstieg auf der gut präparierten Piste zur Diavolezza-Hütte, den wir am späten Vormittag im Sonnenschein angehen. Obwohl das Gelände einfach ist, tun wir beide uns heute irgendwie schwer. Ob das die Eisbecher und die anderen kulinarischen Details von gestern sind? In welcher Verfassung man auch immer dann oben ankommt, der sich plötzlich öffnende Blick auf den Festsaal der Alpen lässt alles andere in den Hintergrund treten. Unter uns das riesige Becken mit Pers- und Morteratsch-Gletscher. Genau gegenüber der berühmte Biancograt, der im Piz Bernina gipfelt. Nach links schweift der Blick über die Bella Vista und bleibt schließlich an den gewaltigen drei Säulen des Piz Palü hängen. Da oben wollen wir morgen stehen. Wir checken im traditionsreichen Berghaus ein, heute ist es eher ein Hotel. Selbst das Lager mit Halbpension ist alles andere als billig. Aber das Ambiente ist einmalig und wir gönnen es uns bewußt. Bergwelt schauen von der Terrasse, vom Restaurant, im Sonnenschein, im Sonnenuntergang, in der blauen Stunde, unterm Sternenhimmel. Beim Viergänge-Menü am Abend haben wir Logenplatz mit Blick auf Biancograt und Piz Bernina.

Am Frühstücksbuffet kommen einem fast die Tränen. Weil da so viele leckere Sachen stehen, der Appetit sich zu früher Stunde zum einen ohnehin in Grenzen hält und zum anderen ein zu voller Magen auf den bevorstehenden rund zwölfhundert Höhenmetern den Energieverbrauch in die falsche Richtung lenkt. In der Dämmerung fahren wir auf hart gefrorenem Untergrund steil hinunter auf den Pers-Gletscher, wo wir die Felle aufziehen und den Aufstieg auf einen der eindrucksvollsten Alpenberge beginnen. Piz Bernina und Biancograt glühen bereits im Sonnenaufgang. Zwischen Ost- und Hauptgipfel des Piz Palü steht die Sichel des Halbmondes. Hier unten greift noch die Kälte nach den Fingerspitzen. Wir finden unser Tempo in der frisch gelegten Spur, einige sind schon voraus, viele werden folgen an diesem Schönwetter-Samstag, zumeist geführte Gruppen. Lange steigen wir im Schatten, passieren dabei gewaltige Eisbrüche. Endlich, im langen Steilhang vor dem letzten Sattel erreichen wir die Licht-Schatten-Grenze, schon nach wenigen Metern heizt uns die Sonne ein. Skidepot auf rund 3.700 m Höhe. Schon jetzt genießen wir den Ausblick. Gemütlich rüsten wir um auf Steigeisen und steigen dann auf teilweise luftigem Grat über den Ostgipfel zum Hauptgipfel. Oben erwartet uns beste Fernsicht in alle Richtungen. Im Osten ragt das Dreigestirn Ortler, Zebru und Königsspitze heraus. Rechts davon der Cevedale. Im Norden der Piz Buin. Atemberaubend die Tiefblicke zur Diavolezza und dem gewaltigen Gletscherbecken, durch das unsere Abfahrtsroute führt. Wir bleiben lange, müssen uns fast losreißen, um zum Skidepot abzusteigen. Als Krönung folgt die lange Abfahrt über fast zweitausend Höhenmeter bei guten Bedingungen über Pers- und Morteratsch-Gletscher bis zum Bahnhof Morteratsch.

(* Nu, sennst na = Na, siehst du ihn)