Durch die Brooks Range zum Eismeer

AUF DEM KOYUKUK UND DEM NOATAK RIVER DURCH DAS NÖRDLICHE ALASKA

Es kann unter Umständen ungeahnte Folgen haben, wenn man jemandem eine Freude macht. So geschehen als Petra mir einen Atlas von Alaska zum Geburtstag schenkte. Denn schließlich fand sie sich eines Tages mit mir, unseren Kindern Sarah und Lennart, zwei Ally-Faltcanadiern, Feuerzelt usw. mitten im auf hunderte Kilometer menschenleeren, äußersten Nordwesten Alaskas wieder.

Eines der wildesten und einsamsten Gebirge unserer Erde, die Brooks Range bildet hier ein riesiges Tal. Die zahlreichen Niederschläge haben keine Chance in dem mehrere hundert Meter tiefen Dauerfrostboden zu versickern. Und so gleiten sie als schmale Rinnsale die felsigen Hänge hinab, murmeln als glasklare Gebirgsbäche durch die grüne Tundra und vereinigen sich schließlich zu dem Fluss, der sie auf einer fast siebenhundert Kilometer langen Reise mitnimmt bis an die eiskalte Tschuktschensee, die Alaska von Sibirien trennt – den Noatak River.

Hier ist die Heimat von Grizzly-Bär, Wolf, Polarfuchs, Moschusochse und Karibu. Der arktische Sommer ist kurz, mit taghellen Nächten und einem Klima, das von Frost und Schneefall, über Sturm und Regen bis hin zu seltenen sonnigen Tagen reicht.

Doch der Weg dahin ist weit und voller Abenteuer. Mit einem Jeep fahren wir in zwei Tagen von Anchorage nach Fairbanks, wo wir unseren Proviant vervollständigen. Weiter geht es auf dem Dalton Highway, einer der großen Traumstrassen des Nordens, hinauf in die Brooks Range. Neugierig fragt Jerry, der Fahrer unseres Kleinbusses, nach unserem Ziel. “Noatak River”, antworten wir. “Oh, it’s a very remote area”, ermahnt er uns mit einem Blick auf die Kinder. In dem idyllischen Goldgräbernest Wiseman schlagen wir unser Zelt am Ufer des Koyukuk River auf und setzen die Faltcanadier zusammen.

In zwei Tagen legen wir die hundertdreißig Kilometer auf dem Koyukuk River nach Bettles mitten in der Wildnis zurück. Starker Regen verzögert den Sprung über die Berge an den Oberlauf des Noatak Rivers um einen Tag. Dann mogeln wir uns in einer Beaver unter tief hängenden Wolken und zwischen schneebedeckten Bergen hindurch und landen auf dem Nelson Walker Lake direkt neben dem Fluss. Der Abschied von unserem Piloten ist kurz und unsentimental: “Watch the bears!”, gibt er uns mit auf den Weg, dann sind wir allein. Vor uns liegen sechshundertfünfzig Kilometer Wildnis.

In den folgenden Wochen lernen wir so ziemlich alle Extreme der Subarktis kennen. Bei tagelangem Regen und stürmischem Gegenwind gibt es Momente, die einen Pauschalurlaub auf Mallorca auf einmal recht interessant erscheinen lassen. Über Nacht legt ein Temperatursturz eine dicke Schicht Reif auf Tundra, Zelt und Boote. Obwohl es weiter regnet, sinkt der Wasserstand des Flusses. Offensichtlich fallen die Niederschläge in den höheren Lagen als Schnee. Wir zählen ganze zwei T-Shirt-Tage, an denen uns die Sonne wärmt, und die es uns erlauben, die schwere Wetterkleidung abzulegen.
Kleine Gruppen von Caribous ziehen um unser Lager. Mehrfach entdecken wir Moschusochsen, einer rennt uns fast über den Haufen. Bis auf eine Bärenmutter, die mit ihren Jungen äsend über die Tundra zieht, ergreifen die Grizzlies die Flucht, sobald sie uns entdecken.
Neunzig Kilometer vor der Mündung in das Eismeer erreichen wir das Eskimodörfchen Noatak Village und erregen einiges Aufsehen. So ein Team ist offensichtlich hier noch nie angekommen. Wir werden eingeladen und erleben bei Steven, seiner Mutter Dolly und seinem Bruder Victor eine unglaubliche Gastfreundschaft.
Am nächsten Tag tuckern wir, eingepackt in die dicke Winterkleidung unserer Gastgeber, in einem offenen Motorboot den Noatak hinunter und über das offene Meer nach Kotzebue.
Stevens guter Geist wacht über uns bis nach Anchorage, wo er dafür sorgt, dass wir bei Verwandten unterkommen. Und noch heute klingelt manchmal das Telefon in der Nacht und eine sanfte Stimme sagt: “Hello, this is Steven from Noatak, Alaska …” und ich stelle mir dann vor, wie er gerade in dem einfachen Holzhaus sitzt, das auf Stelzen gebaut ist und um das der Wind pfeift.