KANU-ABENTEUER IM LAND, DAS GOTT KAIN GAB
„Stützen! Stützen!“ Weit lehnt sich Sarah nach links aus dem Canadier und lässt das Paddelblatt flach auf dem Wasser tanzen, während ich mich nach der anderen Seite strecke. Um uns herum toben meterhohe Wellen. Riesige Felsbrocken liegen im Weg, machen die Strömung unberechenbar. Hinter ihnen dreht sich weiße Gischt wie in einer Waschmaschine. Gleich einem wütenden Rodeopferd wirft uns das Kanu abwechselnd in die Luft. So hoch, dass Sarah im Bug mit dem Paddel nicht einmal mehr das Wasser erreicht.
Verdammt! Wie sind wir bloß hier hinein geraten. Einen Moment nicht aufgepasst, einmal die falsche Richtung um einen Felsblock gewählt und schon ist das rettende Ufer Dutzende Meter entfernt und wir mitten drin in der Hauptströmung. Mein Geschrei dient mehr der eigenen Beruhigung, Sarah weiß auch so, was sie zu tun hat. Immer wieder klatschen die Paddel aufs Wasser, um das Kanu zu stabilisieren und nicht seitlich in die Wellen zu geraten. Aus den Augenwinkeln suche ich nach einem Ausweg. Einige hundert Meter voraus eskaliert der Fluss in ein Inferno aus sich überschlagenden Brechern. Wenn wir dort hineinkommen, ist es nicht nur das Ende dieser Reise… „Achtung!“ Ein paar blitzschnelle Zieh- und Hebelschläge. Haarscharf passieren wir einen riesigen Felsblock. Fast überspült, war er erst im letzten Moment zu erkennen. Dahinter gurgelt das Chaos in einem tiefen Loch. Kein Kehrwasser zum Ausruhen. Aber das Wasserhindernis verursacht eine gegenläufige Strömung über mehrere Bootslängen. Wir nutzen die Minimalchance und ziehen uns mit schräg gestelltem Kanu und hastigen Rückwärtsschlägen nach rechts. Endlich! Die rasante Fahrt lässt nach, wir gewinnen ein paar Sekunden, um einen Ausweg zu finden. Rechte Seite: Stark verblockt, viele Hindernisse. Linke Seite: Hier donnert die Hauptströmung. Auf keinen Fall wieder da hinein! Also… Hoch konzentriert manövrieren wir uns durch den Steingarten, bis wir aufatmend hinter einem Felsbrocken ins Kehrwasser schwenken. Schweißgebadet und mit verkrampften Händen lege ich das Paddel auf den Süllrand. Sarah dreht sich um und lächelt mich mit blassem Gesicht an. Das war knapp!
Ein paar Kehrwasser weiter unten haben Petra und Lennart in ihrem Kanu unseren Ausritt hilflos mit angesehen. Ich hebe die Hand: Alles in Ordnung! Die beiden winken zurück und Lennart verstaut den bereit gehaltenen Wurfsack unter der Spritzdecke. Dann lassen wir uns wieder in das fließende Wasser hineinziehen, tasten uns in Ufernähe weiter und setzen eine Expedition fort, die uns mehr abverlangt, als wir bisher je erlebt haben. Noch etwa vierhundertfünfzig Kilometer einsame Wildnis sind es bis zu dem Inuit-Dorf Kangiqsualujjuaq an der Ungava-Bay. Der mächtige Fluss, der uns dahin bringen soll, trägt den Namen eines Königs: George River!
Im Osten Kanadas liegt Labrador, die zweitgrößte Halbinsel unserer Erde. Seine felsige, von der letzten Eiszeit modellierte Topographie und das raue Klima mit kurzen, von unvorstellbaren Mückenschwärmen dominierten Sommern und bis zu – 60° kalten Wintern verhinderten das Eindringen der Zivilisation bis in unsere Gegenwart. Schon im Jahr 1534 bezeichnete der berühmte französische Seefahrer Jacques Cartier die unwirtliche Wildnis von den Ausmaßen Alaskas als „das Land, das Gott Kain gab“, obwohl er nur dessen zerklüftete Ostküste zu Gesicht bekam. Er wusste nichts von der großartigen Natur, die sich dahinter verbarg, nichts von den fischreichen Seen, den wilden Tieren, wie Karibu, Wolf oder Schwarzbär und den gewaltigen Flüssen.
Einer dieser Flüsse ist der George River. Rund 500 Kilometer fließt er vom Zentrum Labradors hinauf nach Norden an die Ungava-Bay. Eine Expedition mit dem Kanu ist eine extreme Herausforderung, ob in seinen wilden Stromschnellen, der 100 Kilometer langen Überquerung des stürmischen Indian House Lake oder den zahlreichen Umtragungen nicht fahrbarer Abschnitte, die längste davon 3 km. Mit zwei Ally-Faltkanadiern haben Petra und Lennart, sowie Sarah und ich versucht, den George River von seinem Oberlauf bis zu dem Inuit-Dorf Kangiqsualujjuaq an der Mündung zu befahren.
Schon die Reise zum Einsatzpunkt ist weit und voller Erlebnisse. Sie beginnt bei dem ehemaligen Indianerdorf Hochelaga, das heute Montreal heißt und die zweitgrößte Stadt Kanadas ist. Mit dem Jeep fahren wir nach Quebec, wo wir den kanadischen Nationalfeiertag in der wunderschönen historischen Altstadt erleben.
Ein großer Reisebus bringt uns und unsere umfangreiche Ausrüstung immer am Nordufer des Sankt-Lorenz-River entlang ins 650 km entfernte Hafenstädtchen Sept Ile. Von hier fährt die Quebec North Shore & Labrador Railway, die private Eisenbahn einer Bergwerksgesellschaft, einmal in der Woche über 575 km nach Schefferville in das Zentrum Labradors. Es ist die einzige Verkehrsverbindung, die in das Innere der Halbinsel führt. Die große Eisenerzmine dort ist schon längst wieder geschlossen und der Zug wird fast ausschließlich von Indianern genutzt.
Von Schefferville bringt uns eine Single Otter an den 160 km entfernten Oberlauf des George River. Nach dem Einfliegen mit dem Buschflugzeug sind wir völlig auf uns allein gestellt. Eine grandiose Landschaft, Bärenbegegnungen, harte Anstrengungen, indianische Gastfreundschaft und vieles andere warten auf uns. Es ist Frühsommer in Labrador. Eisaufbruch auf dem George River war erst zweieinhalb Wochen vor dem Start. Das Schmelzwasser hat den Fluss anschwellen lassen und das Donnern der Stromschnellen ist manchmal kilometerweit zu hören …