Gefahren für den Eiswanderer

Für den erfahrenen Kanuten sind die Gefahren eines Flusses, der durch entlegene Wildnis fließt, mehr oder weniger offensichtlich. Er orientiert sich an der Höhe des Wasserstandes, spitzt die Ohren, ob von vorn ein verdächtiges Rauschen zu vernehmen ist, inspiziert Stromschnellen und entscheidet dann, ob und wie er sie durchfährt oder ob er der mühsamen, aber sicheren Portage den Vorzug gibt. In der klirrenden Kälte des nordischen Winters sind all diese Gefahren im Frost erstarrt, könnte man meinen und so dürfte das Wandern auf einem zugefrorenen Fluss oder See kaum das Risiko eines eisigen Bades in sich bergen. Das die Gefahren im Winter nach unserer Einschätzung viel größer, weil viel weniger offensichtlich sind, kann man durch Information oder eigene Erfahrung lernen. Im Interesse der eigenen Gesundheit, oder gar des Lebens, ist das erstere bei weitem vorzuziehen. Dass uns, trotz großer Vorsicht, eigene Erfahrungen nicht erspart blieben, liegt in der, ich möchte fast sagen heimtückischen Natur der Sache. Da läufst du kilometerweit durch blütenweißen tiefen Pulverschnee, hältst dich in den Innenkurven, prüfst die Oberfläche immer wieder mit dem Stock und trotzdem gibt es plötzlich ein dumpfes Brechen und die ganze Oberfläche im Umkreis mehrerer Meter sackt mit dir spürbar nach unten. Unter deinen Schneeschuhen gurgelt Wasser nach oben und Panik greift nach deinem Herzen…

Was ist passiert? Neben den Härten einer winterlichen Expedition im Norden Kanadas oder Alaskas, die durch die klimatischen Bedingungen, die hohe körperliche Belastung und die meist schwierige Logistik vorab klar definiert sind, gibt es versteckte Gefahren, von denen man nicht weiß, wann und wo sie auftreten könnten. Insofern ist es wichtig zu wissen, mit welcher Gefahr man konfrontiert werden kann, wie man sie gegebenenfalls vorher erkennt und vermeidet, oder wie man sich in der Gefahrensituation und danach verhält.

OVERFLOW

Bezeichnet Wasser, welches sich auf der Eisoberfläche und unter der darüber liegenden Schneedecke befindet. Dieser Schnee wirkt als Isolator, durch den das Wasser selbst bei strengstem Frost wochenlang nicht gefriert. Wenn man beim Wandern in Overflow gerät, steigt plötzlich Wasser unter den Füßen nach oben, welches in der großen Kälte sofort an Schneeschuhen und Schuhwerk gefriert und dabei jede Menge Schnee bindet. Im Nu hat man Zentnergewichte an den Beinen und am Boden des Toboggans hängen. Das Eis zu entfernen und die Sachen zu trocknen gelingt nur mit Hilfe eines Feuers und ist sehr zeitaufwändig.
Overflow ist aus der Luft leicht und am Boden schwierig zu erkennen. Ein Anhaltspunkt ist, dass sich Wasser immer an den tiefsten Stellen sammelt, oft in den Außenkurven eines Flusses. Beim Wandern die Oberfläche immer mit einem Stock prüfen. Bleibt an der Spitze Schnee hängen, bedeutet das Wasserkontakt, da die trockenen Schneekristalle sonst nicht haften bleiben. Das Vorwärtskommen bei Overflow ist sehr mühsam, da man ihn meist spät erkennt und dann weite Umwege gehen muss, um ihm auszuweichen.

OPEN LEAD

Eisfreie Stellen in der sonst zugefrorenen Oberfläche. Oft zu finden im Bereich flacher Stromschnellen mit hoher Fließgeschwindigkeit, die das Gefrieren verhindert. Auch die Nähe heißer Quellen oder geothermisch aktiver Zonen können dafür verantwortlich sein. Manchmal erscheint es rätselhaft, warum das Wasser nicht gefriert, wie wir es bei unter -40° C im flachen Uferbereich erlebt haben, wo das Wasser gemächlich vor sich hinplätscherte und uns mit den Toboggans zu einem drahtseilhaften Balanceakt auf der schmalen Uferbank zwang.
Open Leads weiträumig umgehen, da deren Randbereiche oft dünnes, instabiles Eis sowie Overflow aufweisen.

SLUSH

Entsteht durch Overflow oder überlaufendes Wasser an Open Leads, bei dem das Wasser den Schnee durchtränkt und Schneematsch entsteht.

STRESS CRACKS

In Phasen tiefster Temperaturen hörten wir oft ein unheimliches Knallen auf dem Fluss, so als stöhnte er unter der großen Kälte. Das Geräusch entsteht, wenn sich das Eis zusammenzieht und schließlich reißt. Dabei bilden sich so genannte Stress Cracks, das sind schmale Spalten, die sich über etliche Meter hinziehen können und aus denen Wasser emporsteigen kann. Fließt es an die Oberfläche, gefriert es sehr schnell und ergibt eine sehr solide Eisdecke. Liegt eine dicke Schneeschicht auf dem Eis, entstehen Overflow und Slush.

DÜNNES EIS

Die Ursachen für dünnes, unsicheres Eis können sehr unterschiedlich sein: Flaches, bewegtes Wasser in Stromschnellen oder Mündungsbereichen, das nur bei größter Kälte leicht zufriert, geothermisch aktive Zonen oder eine tiefe isolierende Schneeauflage, die die Bildung dickerer Eisschichten verhindert. Oder das Sinken des Wasserspiegels im fortschreitenden Winter unter der bereits entstandenen Eisfläche, wodurch deren Tragfähigkeit reduziert wird, sowie noch einige Gründe mehr.

Der Spurläufer testet das Eis ständig mit einem stabilen Stock. Skistöcke sind ungeeignet. Hauptindikator für die Eisdicke ist das Geräusch, das dabei verursacht wird. Es bedarf einiger Erfahrung bei der Bewertung. Ein hohler Klang signalisiert Luft zwischen Wasseroberfläche und Eis. Je höher der Ton, um so fester das Eis. Es nützt nichts, nur auf dem Eis herumzustochern. Kräftig zustoßen, bleiben Zweifel, andere Route nehmen.
Bricht man trotz aller Vorsicht ein, Arme schräg nach vorn ausbreiten, wenn möglich den Stock quer halten und mit flach aufgelegtem Oberkörper auf das Eis ziehen. Partnerhilfe mittels Zuwerfen eines Wurfsacks aus dem Wildwassersport (Seillänge 18 m). Schnellstmögliche Bergung ohne hektische Bewegungen. An Land als allererstes die nass gewordenen Körperpartien mit Pulverschnee bedecken, notfalls im Schnee wälzen. Je schneller das geschieht, um so mehr Wasser bindet der Schnee und reduziert so das Durchdringen der Kleidung. Je nach Situation anschließend Kleiderwechsel oder Trockenlegen an einem Feuer.