Gran Sabana – In der verlorenen Welt

IN DER VERLORENEN WELT – DSCHUNGEL-TREKKING UND FAHRT IM EINBAUM ZUM HÖCHSTEN WASSERFALL DER ERDE

Im Südosten Venezuelas befindet sich einer der größten Nationalparks der Erde. Seine Grenzen umfassen eine riesige Hochebene mit einmaligen Naturwundern – die Gran Sabana. Flüsse, in denen schwarzes Wasser fließt, durchschneiden das Plateau. Dichter Dschungel zieht sich an ihren Ufern hin. Dazwischen liegt weite Savanne. Gleich riesigen Inseln ragen mehr als einhundert Tafelberge aus dieser Ebene empor. Sie sind die Überreste eines gewaltigen Sandsteinplateaus, das im Verlauf von rund 70 Millionen Jahren durch die Erosion zerfurcht und abgetragen wurde. Ihre steilen, oft senkrechten Wände werden bis zu tausend Meter hoch – natürliche Barrieren, die Flora und Fauna auf dem Gipfel der Tafelberge seit Jahrmillionen vom Urwald und der Savanne isolieren. Gigantische Wasserfälle stürzen sich dort in die Tiefe. Einer von ihnen ist der Salto Angel, der höchste Wasserfall der Erde. Die einheimischen Pemon-Indianer nennen die Tafelberge Tepuis, Häuser der Götter. Und den Schriftsteller Arthur Conan Doyle inspirierte die geheimnisvolle Welt dieser Tepuis zu seinem mehrfach verfilmten Roman “The lost world” – Die verlorene Welt.

Dieses Gebiet trägt heute den Namen Canaima-Nationalpark und gehört zum Weltnaturerbe der UNESCO. Es ist die Heimat der Pemon-Indianer, die in kleinen Dörfern verstreut in dem riesigen Gebiet leben. Die übliche Route, wenigstens einige der Höhepunkte dieser Wildnis zu erleben, führt den Touristen in Kleinflugzeugen nach Canaima oder, schon deutlich seltener, nach Kavac. Von dort aus gibt es geführte Touren in mehr oder weniger großen Gruppen und mit entsprechendem Komfort zum Beispiel zum Salto Angel.

Aber es gibt auch noch einen anderen Weg …

Mit einem Allrad-Fahrzeug brechen Sarah, Petra und ich von der idyllischen Posada La Casita in Ciudad Bolivar auf. Zunächst am Orinoco entlang und später durch Llano und Dschungel bringt uns Lobo und ab Puerto Ordaz Rolf in einer achtstündigen Fahrt hinauf in die Savanne. Beide sind deutsche Auswanderer, die schon seit vielen Jahren in Venezuela leben. Nach mehreren hundert Kilometern und auf etwa 1400 m Höhe verlassen wir die Strasse, die sich weiter nach Süden in Richtung brasilianische Grenze zieht. Eine jetzt in der Regenzeit teilweise haarsträubende Off-road-Piste führt über 70 km zur Missionsstation Kavanayen. Einmal entgehen wir haarscharf einem Umschmiss und mit einbrechender Dunkelheit erreichen wir nach zwei Stunden die Mission. Der Padre dort hat ein schlichtes Zimmer für uns.

Hier ist “end of the road”. Wir aber wollen weiter in das Zentrum der Gran Sabana hinein, bis hinüber zum Dörfchen Kamarata zu Füßen des Auyan Tepui, dem größten der Tafelberge. Zwischen Kavanayen und dem Dorf Kuana, von dem aus Kamarata per Boot zu erreichen ist, liegt dichter Dschungel. Da müssen wir hindurch. Rund 85 Kilometer ist die Strecke lang, für die es keine topographischen Karten gibt und wo Kompass oder GPS nur bedingt etwas nützen. So kann man damit sicher in einem Notfall aus dem Dschungel wieder heraus finden. Eine exakte Navigation, um auf dem schnellsten und vernünftigsten Weg nach Kuana zu kommen, ist aber kaum möglich, da wir die Lage markanter Teilziele unterwegs nicht kennen. So stand für uns von vornherein fest, dass wir uns der Ortskenntnis eines Einheimischen anvertrauen.

Juan ist ein junger Pemon-Indianer, untersetzt und kräftig, wie die meisten seines Stammes. Der Padre war uns bei der Suche nach einem Führer behilflich und Juan, der sich zu dem Zeitpunkt zufällig in Kavanayen aufhielt, war sofort bereit und die beste Wahl, die wir treffen konnten. Sechs Tage, maximal sieben würden wir brauchen, meint er. Und so brechen wir auf, schwer beladen mit unseren Trekking-Rucksäcken. Es ist August, der Monat des Regens, wie die Indianer sagen. Höhepunkt der Regenzeit.

Die nächsten Tage werden die mit Abstand anstrengensten, die wir bisher erlebt haben. Im Gänsemarsch folgen wir Juan, der mit der Machete einen Tunnel in die grüne Mauer schlägt. Es ist uns ein Rätsel, woher er weiß, wohin wir laufen müssen. Wer zum Verschnaufen innehält und die anderen dabei aus den Augen verliert, muss oft genug rufen, um zu wissen, in welcher Richtung es weitergeht. Quer zur Laufrichtung haben sich etliche Bäche und Flüsse tief in das Gelände eingeschnitten. Fast ständig geht es steil bergauf oder -ab. Unzählige Male klettern wir über umgestürzte Baumriesen, kriechen auf allen vieren unter halbhoch hängenden Ästen oder quer liegenden Stämmen hindurch, balancieren auf schlüpfrigen Brückenbäumen über Wasserhindernisse oder waten hindurch. Ob es regnet oder nicht, wir sind vom Kopf bis in die Bergschuhe nass. Abends schlagen wir das Lager unter unserer Dschungel-Tarp auf, die Juan offensichtlich beeindruckt. Waschen, trockene, lange Unterwäsche anziehen, Essen kochen und todmüde ins Schlafsack-Inlett kriechen. Am nächsten Morgen wieder rein in die nasse Tageskleidung und eineinhalb Stunden nach dem Aufstehen sind wir wieder unterwegs. Am Abend des vierten Tages bekommt Juan Fieber und Kopfschmerzen. Trotz unserer Paracetamol-Behandlung wälzt er sich in der Nacht ruhelos herum, stöhnt und spricht im Schlaf.

Am nächsten Morgen geht es ihm kaum besser, Knieschmerzen sind noch dazu gekommen, wir reiben das Gelenk mit Voltaren-Salbe ein. Trotzdem schleppen wir uns weiter und erreichen am Nachmittag eine wahre Oase, eine kleine Lichtung mit Zitronenbäumen und Ananaspflanzen. Hier stehen zwei Churuatas, mit Palmenblättern gedeckte, an den Seiten offene Pfahlbauten, unter denen wir unsere Hängematten spannen. Zehn Minuten entfernt von hier lebt Juans 77jähriger Großvater allein im Dschungel. Ihn besuchen wir am nächsten Abend, nachdem wir uns tagsüber ausgeruht haben. Sein neu gebautes Conuco steht auf einem brandgerodeten Hügel mit weitem Blick über den dampfenden Regenwald. Er ist ein kleiner, zäher Mann mit schwarzem Haar. Sein ganzes Leben hat er im Dschungel verbracht. Die Großmutter ist schon gestorben. Im Moment hat er Besuch von Elios, einem Onkel Juans aus Kuana.

Juan ist wieder fit und auch uns hat der Ruhetag gut getan. Auf unserem Weitermarsch begleitet uns Elios, der zurück nach Kuana will. Obwohl der Dreißigjährige einen grazileren Körperbau als Juan hat, ist er unglaublich schnell und stark. Noch zwei Tage kämpfen wir uns durch den Dschungel, bis wir einen langen, steilen Abstieg im Tropenregen hinunter schlitternd endlich Kuana erreichen. Unter der großen Versammlungs-Churuata in der Mitte des Dorfes spannen wir unsere Hängematten und legen uns trocken.

Am nächsten Tag fahren wir zusammen mit einigen Indianern mit dem Boot nach Kamarata. Als wir auf den Rio Akanan einbiegen, tauchen hinter Wolkenfetzen erstmalig die gewaltigen Felswände des Auyan Tepui auf. Schon dieser Anblick entschädigt uns für die Schufterei der letzten Tage. Zwei Nächte bleiben wir in Kamarata. Juan organisiert mit seinem Freund Santo unsere Weiterreise. Vorher machen wir einen Abstecher in die fünf Kilometer entfernte Cueva de Kavac. Schwimmend und uns an Seilen im Wasser vorwärts ziehend, dringen wir in die enge, dunkle Klamm zu Füßen des Auyan Tepui vor, an deren Ende ein gewaltiger Wasserfall herein donnert.

In den folgenden Tagen fahren wir mit Juan, Santo und drei weiteren Indianern in einem Einbaum den Rio Akanan und den Rio Carrao hinunter. Deren Wasser sind schwarz und ruhig. Gelegentlich werden sie aber von teilweise gewaltigen Stromschnellen unterbrochen. Linkerhand begleitet uns der Auyan Tepui. Wir haben herrliche Ausblicke auf die Savanne und die Tafelberge. An einem Morgen vor dem Aufbruch “operiert” mir Santo einen fast erbsengroßen Parasiten aus der Ferse, der sich dort schon seit einigen Tagen eingenistet haben muss. Am dritten Tag biegen wir in den Rio Churun ein, der aus dem Inneren des Auyan Tepui kommt. In strömendem Regen und bei Hochwasser fahren wir flussauf und erreichen schließlich eine Reihe von überdachten Lagerplätzen im Regenwald. Hier sind die Basislager für all diejenigen, die den höchsten Wasserfall der Erde aus nächster Nähe erleben wollen. In Einbäumen mit 12-15 Personen werden die Touristen von Canaima herauf gebracht, ihnen die Hängematten gerichtet und das Essen gekocht.

Unser kleines Team fällt da aus dem Rahmen. Offensichtlich hat sich unter den Indianern und Guides herumgesprochen, dass wir von Kavanayen durch den Dschungel gelaufen sind. Wir merken, dass wir uns auf deren “Anerkennungsskala” weit oben befinden, zumal wir uns nicht bedienen lassen, sondern zur Gruppe gehören wie andere auch. Wir haben Juan das Romme-Spielen gelernt, wir spielen mit Santo und den anderen zusammen Mini-Logi. Nach getaner Arbeit kommen die Indianer der Pauschalgruppen, wo sie als Personal für alles zuständig sind, zu uns, und wir haben viel Spaß miteinander.

Der Salto Angel stürzt sich in freiem Fall fast eintausend Meter vom Rand des Auyan Tepui herunter. Ob unten vom Fluss oder nach steilem Aufstieg bis zum Aussichtspunkt, die gewaltige Größe bleibt kaum fassbar. Der Wechsel von Sonnenschein und an den Felswänden auf und ab steigenden Wolken bietet ein grandioses Schauspiel. Während wir das und den weiten Blick auf den Dschungel und die wilden Felsformationen genießen, vergeht die Zeit unbemerkt. Die Krönung ist ein Bad in der kleinen Lagune unterhalb des Wasserfalls.

Der Abschied aus diesem Wunderland fällt schwer. Eine Tagesreise den Rio Churun und den Rio Carrao hinab bringt uns nach Canaima. Santo ist hier geboren. Damals lebten fünf Familien hier, erzählt er uns. Heute ist Canaima das Touristenzentrum für Ausflüge in das Innere der Gran Sabana mit allen Erscheinungen, die dazu gehören. Trotz der wunderschönen Umgebung fühlen wir uns nicht wohl hier. Vielleicht aber auch, weil wir Abschied von unseren Gefährten nehmen müssen. Besonders Elios, von dem wir uns schon in Kamarata trennen mussten, und natürlich Juan sind uns ans Herz gewachsen. Als es soweit ist, frage ich Juan, ob er noch etwas Platz in seinem Rucksack hat. Erstaunt ob der Frage nickt er mich an. Wir wissen, dass es ihm unsere Dschungel-Tarp angetan hat und die stopfen wir jetzt in seinen Rucksack. Ein Indianer springt nicht jauchzend im Dreieck, wenn man ihm eine Freude macht. Aber wir sehen, wie er sich freut. Als wir dann auf einem Pick-up die schlechte Strasse hinüber zum Flugplatz an Juan vorbei rumpeln, rufe ich: “Vamos a Kavanayen!” – Lass uns nach Kavanayen gehen! Er lacht und winkt und es ist gut, dass die Sonnenbrille meine Augen verdeckt.

Canaima ist nur mit dem Flugzeug zu erreichen. Ein kleiner Buschflieger bringt uns zurück nach Ciudad Bolivar. Einen Tag ruhen wir uns wieder in der Posada La Casita aus. Peter Rothfuss hat hier zusammen mit seiner Frau Maria eine wahre Oase für den Rucksacktouristen geschaffen. Hilfsbereit und mit Kontakten wohl in ganz Venezuela hilft uns Peter bei unseren Plänen für die verbleibende Zeit. Mit dem Bus fahren wir am nächsten Tag hinauf an die Küste in das kleine Fischerdorf Santa Fe zwischen Puerto La Cruz und Cumana. Peter hat uns ein Zimmer in der Posada “La Sierra Inn” direkt am Strand organisiert. Bei Cuba libre, mit Schnorcheln, Delphinbeobachtung, Baden, Sonnen und einem Ausflug in die Altstadt von Cumana, wo Alexander von Humboldt seine berühmte Südamerikareise begann, erholen wir uns in der Karibik von den Anstrengungen in der einmaligen Gran Sabana.