In den großen Rapids schlägt das Herz bis zum Hals und Adrenalin jagt durch die Adern.
Barrenlands bezeichnen die Kanadier die riesigen Wildnisgebiete in den Nordwest-Territorien und dem Territorium Nunavut, in denen die Tundra mit ihren rollenden Hügeln und karger Vegetation dominiert. Geologisch gesehen befinden sich die Barrenlands auf dem Kanadischen Schild, dessen Granit zu den ältesten Gesteinsformationen der Erde gehört. Von den fünf bedeutendsten Flüssen dieser Region, den Coppermine, Dubawnt, Thelon, Kazan und Back Rivers ist der Coppermine River für viele derjenige Fluss, der die verschiedenen Facetten der nordischen Wildnis am eindrucksvollsten repräsentiert. Er entspringt mitten im Herzen der Tundra am Lac de Gras und fließt schließlich fast am westlichen Rand der Barrenlands bis hinauf an den Coronation Gulf am Arktischen Ozean. Taiga, Tundra, riesige Seen, schwieriges Wildwasser und beeindruckende Canyons passiert er auf seinem Lauf. Die menschliche Geschichte reicht tausende Jahre zurück, die des weißen Mannes beginnt im Jahr 1771 mit Samuel Hearne und dramatischen Ereignissen. Das Klima ist rau, ungehindert fegt der Wind über das flache Land. Trotzdem durchstreifen Caribous, Moschusochsen, Grizzlies und Wölfe diese Wildnis.
“You are on your own!”, sagt der Pilot des Buschflugzeuges, als er uns Anfang August fast am Westende des riesigen Point Lake aussetzt. Das soll heißen: “Ihr seid auf euch selbst angewiesen.” Petra und ich sind die letzte Kanupartie, die in diesem Sommer den Coppermine River befährt. Nach uns kommt niemand mehr. Es ist spät in der Saison. Wegen des in diesen Breiten früh mit seinen Stürmen einsetzenden Herbstes sollten Kanutouren möglichst schon Mitte August die Mündung des Flusses bei dem Örtchen Kugluktuk am Coronation Gulf erreicht haben. Aus diesem Grund wollten wir einige Kilometer vor dem Ende des Point Lake starten und so das Paddeln über die jeweils mehr als hundert Kilometer langen Seen Lac de Gras und Point Lake vermeiden.
Das Wetter ist sommerlich schön, als wir unser Lager errichten und uns im kalten Wasser des Point Lake erfrischen. Abends kommt Nordwind auf, der sich schnell zum Sturm entwickelt. Sechs Tage fesselt er uns ans Ufer. Nach drei Tagen machen wir einen Startversuch, als der Wind morgens etwas abflaut. Einen halben Tag später sind wir froh, unser Zelt am Ausgangspunkt heil und unversehrt wieder aufstellen zu können. Ich kann mich an keine Situation erinnern, in der ich soviel Angst hatte, wie in den riesigen, windgepeitschten Wellen auf dem weiten See an diesem Tag. Die Zeit läuft uns davon und wir wissen nicht weiter. Beim Einfliegen haben wir einige Kilometer ostwärts ein Jagd- und Fischcamp gesehen. Das müsste besetzt sein und die haben bestimmt auch Funkkontakt nach Yellowknife. Am fünften Tag marschieren wir dahin, verbinden den Ausflug gleich mit der Suche nach Feuerholz in der mit spärlichen Bauminseln gesprenkelten Tundra. In Peterson’s Point Lake Lodge sind zu diesem Zeitpunkt drei Guides und fünf Gäste. Sie staunen nicht schlecht, als wir auftauchen. Aber der Empfang ist freundlich und gipfelt in der Einladung zum Abendessen mit frisch gefangener Seeforelle. Unsere eigene Tour steht an diesem Tag total auf der Kippe. Eines steht für uns fest: Unter diesen Wetterbedingungen werden wir auf keinen Fall wieder gegen die Wellen antreten. Am wahrscheinlichsten ist das Ausfliegen mit einem per Funk georderten Flugzeug nach Yellowknife. Und dann …?
Aber es kommt zum Glück anders. Wir verlassen die Lodge mit der Vereinbarung, dass uns Chad Peterson und ein zweiter Guide am nächsten Morgen mit dem Motorboot hinüber in den Redrock Lake bringen. Das sind keine acht Kilometer und bei gutem Wetter mit dem Kanu kein Problem. Aber so überwinden wir den zur Zeit extrem gefährlichen Bereich und retten damit hoffentlich die Tour. Gary, ein anderer Guide, spricht von ungewöhnlich schlechtem Wetter in den letzten Wochen und geht von einer Besserung aus. Darauf hoffen auch wir.
Alles klappt perfekt und wir sind den Jungs von der Peterson’s Lodge für ihre Gastfreundschaft und Hilfsbereitschaft unendlich dankbar. Jegliche Form von Bezahlung lehnten sie ab.
Voller Hoffnung starten Petra und ich dann auf dem Redrock Lake. Rund vierhundertvierzig Kilometer liegen noch vor uns. Der See ist alles andere als klein, aber wir können uns in Ufernähe halten und das Wetter ist tatsächlich besser. Trotzdem frischt der Nordwind wieder auf, und wenn es auch kein Sturm wird, ist er doch so heftig, dass es schon Kraft kostet, das Paddelblatt über Wasser wieder nach vorn zu bringen. Bis zum Ende der Tour sollte er unser treuer Begleiter bleiben. Zweieinhalb Tage brauchen wir deshalb, den Redrock Lake und den anschließenden Rocknest Lake zu überqueren. Wir sehnen fließendes Wasser herbei und als wir es endlich erreicht haben, präsentiert es sich gleich mit zwei heftigen Stromschnellen. Weil vom Kanu gut einsehbar, fahren wir die erste ohne zu scouten direkt an und kreuzen zweimal die meterhohen Wellen in der starken, S-förmig verlaufenden Strömung. Die zweite Schnelle ist gut fünfhundert Meter lang und vor allem im letzten Teil stark verblockt. Immer das Moskitonetz auf dem Kopf kundschaften wir am Ufer eine Route aus, halten uns rechts und treideln die letzten, unfahrbaren zwanzig Meter.
In den ersten sieben Tagen paddeln wir ohne Ruhetag, um verlorene Zeit aufzuholen. Immer wieder werden die Wildwasser-Abschnitte von Seen und Zahmwasser unterbrochen und der Kampf gegen den Wind zehrt an den Kräften und der Moral. Einmal, nach der schier unendlich langsamen Überquerung eines Sees, werfen wir uns am Ufer zum Verschnaufen auf den Kies und ich fluche: “Das ist kein Fluss, das ist ein riesiger, nicht enden wollender See.”
Aber wir halten den Stress in Grenzen. Fast immer steht unser Lager am Nachmittag zwischen drei und vier Uhr, der Ofen spendet Wärme, wir ruhen uns aus und trinken Capuccino. Die Landschaft ist beeindruckend in ihrer Weite. Nach dem Point Lake mit seiner nahezu baumlosen Tundra folgen die dicht bewaldeten Ufer des Redrock und Rocknest Lake. Je weiter wir nordwärts kommen, umso dünner wird der Wald. Von jedem Lagerplatz nehmen wir einen Holzvorrat für das nächste Camp im Kanu mit. Fast täglich begegnen uns kleine Gruppen von Caribous. Oft überqueren sie ohne zu zögern schwimmend den breiten Fluss.
Als wir in unserem Zelt an der Mündung des Fairy Lake River gerade den Nachtisch genießen, sagt Petra zum Eingang hinaus schauend auf einmal: “Jetzt kommt auch noch ein Bär.” Und was für einer! Fleißig vom Überfluss an Heidelbeeren naschend und ohne uns zu bemerken, nähert sich uns ein stattlicher Grizzly. Fast zwei Stunden dauert die Vorstellung, bis er so nahe ist, dass wir uns vorsichtshalber bemerkbar machen. Blitzschnell richtet er sich in vierzig Metern Entfernung auf und nimmt uns ins Visier. Ohne abzuwarten, was jetzt folgt, jage ich einen Warnschuss in die Luft. Erschrocken wirft er sich herum und sucht das Weite. Aber nicht weit genug. Erst zwei weitere Schüsse treiben ihn vorübergehend außer Sichtweite. Wenig später taucht er keine zweihundert Meter oberhalb unseres Lagers wieder auf. Gemütlich äsend, und sich dabei immer weiter entfernend, verschwindet er schließlich nach insgesamt dreieinhalb Stunden zwischen den Bäumen.
Fast jeder Tag bietet neue Erlebnisse mit der Tierwelt. Wir sehen Elche in flachen Seen stehen, den Kopf sekundenlang unter Wasser. An einer kleinen, staunenden Herde Moschusochsen lassen wir uns langsam vorbei treiben. Scheinbar reglos sitzen Weißkopfseeadler in den Baumwipfeln. Ein Pack Wölfe begleitet uns mehrere Kilometer in sicherer Entfernung durch schütter bewaldeten Berghang. Wir legen die Paddel aus der Hand und lauschen ihrem Konzert. Gänsehaut! Wo auch immer wir lagern, immer wuseln die kleinen Erdhörnchen in der Nähe. Hier in der Arktis gibt man ihnen den lustigen Namen Sik-Sik.
Als wir den Polarkreis überqueren, stoßen wir im Kanu mit Tee aus der Thermosflasche an. Der Wind bleibt, aber das Wetter wird besser, je weiter nördlich wir kommen. Nachdem der Coppermine River über rund einhundertdreißig Kilometer in nordwestlicher Richtung geflossen ist, markiert die Big Bend nicht nur eine Richtungsänderung um fast 90 Grad. Ab hier nimmt der Fluss richtig Fahrt auf und obwohl uns der Nordwind kälter denn je ins Gesicht bläst, reißt uns die Strömung mit. Neben ungezählten Wildwasserschwierigkeiten bis zum dritten Grad hat der Coppermine River fünf große Stromschnellen, deren Namen sogar auf den 250.000er Karten ausgewiesen sind und alle in diesem Bereich liegen. Rocky Defile, Muskox Rapids, Sandstone Rapids und Escape Rapids sind Begriffe, die uns viel Respekt einflößen. Hier darf nichts schief gehen, im Zweifelsfall würden wir eher portagieren. Jede Stromschnelle kundschaften wir sorgfältig aus. Es handelt sich immer um Wuchtwasser mit Walzen, hohen, stehenden Wellen und sehr starken Strömungen mit Richtungsänderungen zwischen Prallwänden. Uns ist klar, dass die Wellen vom Kanu aus gesehen viel höher sind, als zum Beispiel von den fast siebzig Meter hohen Canyonwänden des Rocky Defile.
Wir fahren alle vier Stromschnellen. Das Herz pocht bis zum Hals, Adrenalin jagt durch die Adern, als wir uns jeweils den ersten Wellen nähern. Sie sind noch viel riesiger, als wir es trotz unserer Erfahrung erwartet haben. Im zweiten Teil der Muskox Rapids laufen wir nach der erfolgreichen Befahrung am Ufer extra wieder zurück, weil wir es einfach nicht glauben können, wie gewaltig die Wellen waren. Vom Ufer sehen sie fast harmlos aus.
Die Muskox Rapids markieren so ziemlich das Ende des ohnehin kaum noch vorhandenen Baumwuchses. Wir nutzen einen Ruhetag und stocken unseren Holzvorrat soweit wie möglich auf. Im Kanu werden meterlange Stücke zwischen dem Gepäck verteilt, die Verpflegungstonne und der Packsack der Persenning mit gespaltenen Scheiten gefüllt. Derart schwer beladen fahren wir den heftigsten Wildwasserabschnitt des Coppermine River von den Muskox Rapids über die Sandstone Rapids bis zur schwersten Stromschnelle, den Escape Rapids. Der ganze Tag wird ein heißer Tanz in den Stromschnellen. Auf dem Kräfte zehrenden Weg von Innenkurve zu Innenkurve kreuzen wir ständig die Hauptströmung. Dort muss das Kanu mitten durch gewaltige Wellen, die einmal Petras Spritzdecke aufreißen, so dass wir bei der nächsten Rast etliche Liter Wasser heraus schöpfen müssen. Die Escape Rapids, eingestuft als Wildwasser 3 bis 4, sind eine echte Herausforderung mit dem schweren Kanu. In den sich kreuzenden Strömungen und Turbulenzen kann jegliches Zögern fatale Folgen haben. Vom Boot aus legen wir unsere Route fest und ziehen die Paddel entschlossen durch.
Die fünfte große Stromschnelle, lang gezogen und heftig, nur sechzehn Kilometer vor der Mündung, ist die einzige Portage unserer Tour. Im Jahr 1771 erreichte Samuel Hearne im Auftrag der Hudson Bay Company als erster Weißer bei den Sandstone Rapids den Coppermine River und folgte ihm bis zur Mündung. Als er einige Tage später hier im Morgengrauen auf ein Inuit-Camp traf, metzelten seine indianischen Führer alle noch schlafenden Inuit, ihre traditionellen Feinde, nieder, ohne dass Hearne dies verhindern konnte. Der Name Bloody Fall erinnert an dieses Ereignis.
Zwei Tage später steht unser Zelt am Coronation Gulf. Unermüdlich rollen die Wellen des arktischen Ozeans gegen das Ufer. Hinter uns liegt eine Tour mit unvergesslichen Eindrücken und Erlebnissen. Vor dem Rückflug nach Yellowknife spenden uns die letzten Holzscheite von den Muskox Rapids noch einmal Wärme in unserem Zelt.