Der Traum vom Colorado

MIT DEM KANU DURCH DEN GRAND CANYON

“Das Leben ist entweder ein gewagtes Abenteuer oder gar nichts.“ Helen Miller

Auf einem GOC-Treffen Anfang der 90er Jahre stand in einem großen, weißen Giebelzelt ein Fernsehgerät, auf dem in einer Endlosschleife Kanu-Videos liefen. Eines davon faszinierte mich dermaßen, dass ich es mir immer wieder anschaute. Zu sehen waren Männer, die sich in Solo-Kanadiern in ein gigantisches Durcheinander aus riesigen Wellen, Brechern und Walzen braunen Wassers stürzten. Ungläubig starrend, hielt ich die Typen für verrückt und suizidgefährdet. Ähnliches mag ein Zuschauer erfahren, der zum ersten Mal an einer Skisprungschanze steht und aus nächster Nähe erlebt, zu welch scheinbar unbegreiflichen Leistungen Menschen in der Lage sind. Mir gingen diese Bilder nicht mehr aus dem Kopf. Erst viel später erfuhr ich, was ich da gesehen hatte: Bob Foote’s Video „Canoeing in the Grand Canyon“. Zaghaft träumte ich davon, es ihnen nachzutun. Im Laufe der Jahre wurde der Traum immer stärker und mit ihm wuchs die Motivation, meine Paddelkünste zu verbessern. Lennart von meinem Traum zu begeistern, war nicht schwer und so paddelten wir, so oft es ging: Salza, Soca, Loisach, bei -14° C auf der Oker, Kanurolle im Hallenbad, Vorderrhein, zwischendurch immer wieder Grundschlag auf ruhigen Gewässern. Und obwohl uns die Erfahrung auf vergleichbarem Wuchtwasser bis zuletzt fehlte, wurde der Traum zum Plan, an dessen Umsetzung wir mit Elan gingen.

Um den Grand Canyon zwischen Lee’s Ferry und Diamond Creek zu befahren, gibt es zwei Möglichkeiten: Einmal als privaten Trip, für den es bis 2006 eine Liste mit einer Wartezeit von 25 (!) Jahren gab. Inzwischen hat man statt der Warteliste ein Losverfahren eingeführt. Zum anderen als Gast einer der lizensierten Companies, die ihre Kunden in riesigen, motorisierten Rafts, kleineren Ruderrafts oder den legendären Ruderbooten, den Dories, mit Vollpension sicher den Colorado hinunter führen. Nicht das, was wir wollten. Es ist immer noch die Ausnahme, dass der Grand Canyon im offenen Kanadier befahren wird. Dass es überhaupt passiert, hängt mit Pionieren wie Bob Foote zusammen, die vor rund dreißig Jahren als Erste das scheinbar Unmögliche wagten. Von vornherein stand deshalb für uns fest: Wenn Grand Canyon, dann nur mit Bob Foote. Als wir die Chance bekamen, an einer exklusiven Kanadier-Tour unter Führung von Bob und mit Raft-Begleitung teilzunehmen, griffen wir zu. Es sollte in jeder Hinsicht eine einmalige Reise werden.

McCarran-International-Airport Las Vegas: Zu Viert stehen wir bei 40° C im Schatten mit unserem Gepäck und zwei Solo-Kanadiern leicht verzweifelt am Taxistand. Condor hat uns und unsere Ausrüstung sicher über den Atlantik gebracht. Jetzt liegen läppische sieben Kilometer bis zum Circus Circus, unserem Hotel, vor uns und wir wissen nicht weiter. Vorsorglich haben wir den HandiRack, einen aufblasbaren Dachgepäckträger, mitgebracht, um ihn einem Taxi aufzuschnallen, das uns dann zum Hotel bringt. Die Ernüchterung kam, als wir die ersten Taxis sahen. Alle haben großflächige Werbeschilder auf dem Dach montiert, keine Chance, dort Kanus zu transportieren. Aber wir sind im Land der unbegrenzten Möglichkeiten. Ein Stückchen weiter ist der Parkplatz für die in Las Vegas allgegenwärtigen Stretch-Limousinen, schwarz, innen vornehmes Lederambiente mit Bar, die Fahrer livriert … und unglaublich hilfsbereit. So starten wir unseren Trip auf amerikanischem Boden mit einer Fahrt in zwei Stretch-Limousinen durch Las Vegas. Jeweils ein Kanu wird in den Fahrgastraum gefädelt. Erleichtert falle ich mit dem Rücken zur Fahrtrichtung auf den Sitz hinter dem Cockpit und strecke meine Beine in den Innenraum. Gut vier Meter von mir entfernt grinst mich Lennart von der Rückbank an, zwischen uns an der linken Längsseite die gut sortierte Bar, aus der wir uns gern bedienen können, rechts liegt mein Spark auf den Ledersesseln. Beim ersten Ampelstopp dreht sich unsere Fahrerin lachend zu uns um und schießt ein paar Fotos mit dem Handy. So eine Kundschaft hätte sie noch nie gehabt. Als dann die zwei Stretchlimos zum Circus Circus einbiegen, stehen die uniformierten Gepäckboys vor dem Eingang fast stramm. Die Jungs sind mit Sicherheit einiges gewohnt. Aber wenn jetzt die Rolling Stones aus den Limos ausgestiegen wären, hätte es wahrscheinlich weniger ungläubige Gesichter gegeben, als in dem Moment, wo Petra und Sarah, sowie Lennart und ich aus den Karossen springen und anfangen, zwei Boote herauszuziehen und Gepäcktonnen aus den Kofferräumen zu wuchten.

Einen Tag später verlassen wir Las Vegas in einem Shuttle. Stundenlang fahren wir durch Nevada, Utah und Arizona. Draußen flimmert das Land in der Hitze. Am Abend nimmt uns Bob an der Marble Canyon Lodge in Empfang und wir lernen den Rest der Gruppe kennen. Noch bis spät in die Nacht werden Ausrüstung und Kanus präpariert. Am nächsten Morgen rumpeln wir im Van, das Gepäck und die Boote auf einem Truck, den unbefestigten Fahrweg hinunter nach Lee’s Ferry, der üblichen Einsatzstelle am Colorado. Zwei große, motorisierte Rafts von MokiMac, einem der lizensierten Outfitter, liegen bereit. Ich überschaue unsere Gruppe: Burt und Bobby aus North Carolina im 17-ft-Prospector, Vince aus Kalifornien im Spark, Madeleine aus Montreal im Impuls, Lennart im Detonator und ich im Spark, macht sechs Kanadier-Fahrer, dazu Dave und Shane aus Kalifornien, Shane’s Bruder David aus Philadelphia, die den Fluss teilweise in kleinen Schlauchbooten, sogenannten Duckies, mit dem Doppelpaddel befahren werden. Und Petra und Sarah auf dem Raft. Eine wahrlich exklusive Gruppe von elf Personen, die von Matt und Larry, sowie Jay und Rose, den Raftguides von MokiMac, all inclusive umsorgt werden wird. All das unter der umsichtigen Führung von Bob, der im Prodigy X paddelt.

Wir starten in brütender Hitze. Das Wasser des Colorado River ist klar und eiskalt. Es kommt aus den Tiefen des Glen Canyon Dam, nur wenige Meilen oberhalb Lee’s Ferry. „We are now ready to start on our way down the Great Unknown.”, schrieb der Erstbefahrer des Grand Canyon, der einarmige Bürgerkriegsveteran Mayor John Wesley Powell am 13. August 1869 in sein Tagebuch. Das große Unbekannte ist der Grand Canyon heute bei weitem nicht mehr. Doch wir sind vielleicht nicht weniger aufgeregt als Powell und seine Männer vor hundertvierzig Jahren. Sanft gleitend beginnen wir unsere Reise. Vor mir die vertraute Bugspitze meines Kanus, vertraut auch das Pitsch, pitsch, mit dem ich das Paddel durch das Wasser ziehe. Aber wenn ich den Kopf hebe, sehe ich links die mächtige Felswand des Marble Canyon, rechts mündet der Paria River in den Fluss und vor mir paddelt Bob Foote, eine lebende Legende unter den Kanufahrern. Es wird noch dauern, bis ich realisiere, dass ich nicht träume, sondern dass ein Traum wahr wird. Matt und Larry fahren mit ihrem Raft voraus, Petra und Sarah sind dort an Bord. Ein bunter Schwarm Kanus, manchmal weit auseinander gezogen, folgt ihnen. Jay und Rose im zweiten Raft beschließen unseren Konvoi. In dieser Reihenfolge werden wir in den nächsten zwei Wochen durch den Grand Canyon paddeln und einige seiner Geheimnisse kennenlernen. Vor uns liegen mehr als 360 Kilometer mit über einhundert Stromschnellen. Einige davon zählen zu den Gewaltigsten Nordamerikas.

Nur wenige Stunden nach dem Aufbruch kündigt sich mit dunklem Rauschen Badger Creek Rapid an. Wir legen links zum Scouten an. Mein erster Gedanke: Sieht ja gar nicht sooo wild aus. Wir beobachten, wie Matt das riesige Raft sicher nach unten steuert, dabei ordentlich durchgeschüttelt wird und im rechten Kehrwasser in Position geht. Eine leise Ahnung, dass Lennart und mich da vielleicht doch eine neue Dimension erwartet, drängt aus der Bauchgegend nach oben. Bob erklärt die Linie und stellt gleich klar, dass wir Rapids dieser Kategorie in ein, zwei Tagen gar nicht mehr anschauen, sondern gleich fahren. Als wir wenig später wie die Entenküken in gebührendem Abstand hinter Bob in die Stromschnelle einschwenken, sehe ich vorn an der Kante nur ein Durcheinander aus explodierenden Wellen. Wo ist die Linie? Bob ist mit einem Mal verschwunden und fliegt wenig später mitten aus dem Tohuwabohu wieder nach oben, als wäre er mitsamt seinem Kanu auf ein riesiges Trampolin gesprungen. Im nächsten Moment ist er wieder weg. Ach du liebe Zeit! Sekunden später zieht mich die Strömung hinunter in ein tiefes Loch, während mein Magen nach oben rutscht. Viel Gelegenheit hat er nicht, dort zu bleiben. Vor mir baut sich eine grüne Wasserwand auf. Das schaffst du nie, denke ich, widerstehe dem Drang nach hinten auszuweichen, schiebe die rechte Schulter vor und pflanze das Paddel weit vorn ins Wasser. Mein Boot kommt mir entgegen, fast berührt meine Nase den vorderen Auftriebskörper. Aber ich bleibe vorn und ziehe das Paddel durch. Dann wird es hell. Ein Moment der Erleichterung und des Schwebens auf einer weißen Schaumkrone, bis das Kanu nach vorn kippt und in das nächste Loch stürzt.

Die ersten Stromschnellen sind fair. Riesige Wellen, aber noch keine Prallwände und Verschneidungen. Bob strahlt eine Ruhe aus, die uns allen Sicherheit verleiht. Geduldig erklärt er die Linie und die Grundregeln, mit einem offenen Kanadier Wuchtwasser sicher zu befahren. Und obwohl der Adrenalinspiegel jedesmal steigt, wenn das dumpfe Rauschen des nächsten Rapids an unser Ohr dringt und wenig später vor uns das Wasser zu toben beginnt, macht die Sache zunehmend Spaß.

In der erdgeschichtlich kurzen Zeit von nur sechs Millionen Jahren hat es der Colorado River geschafft, sich mehr als eine Meile tief in das Colorado Plateau einzugraben. Eine Reise durch den Grand Canyon ist eine Reise in die ferne Vergangenheit unseres Planeten. In der Inneren Schlucht ist der Grand Canyon mehr als eine Meile tief. Der Fluss hat dort Gesteinsschichten freigelegt, die fast zwei Milliarden Jahre alt sind und damit zu den ältesten der Erde gehören. Angesichts dieser Dimensionen scheint es, als wäre der Mensch erst gestern in den Lauf der Geschichte getreten. Auch seine, vergleichbar jungen Spuren findet man im Grand Canyon in Form Jahrhunderte alter Ruinen und Felszeichnungen prähistorischer Indianer. Fast körperlich spürt man, wie unbeeindruckt die gewaltigen Felswände von der temporären Anwesenheit der paar Menschlein sind, die zwischen ihnen hindurch treiben. Hier gilt ein anderer Maßstab. Der Grand Canyon ist Wildnis pur, die karge Vegetation, das schroffe Gestein und die flimmernde Hitze lassen ein längeres Überleben fragwürdig erscheinen. Aber es gibt Zeugnisse, dass schon vor mehreren tausend Jahren prähistorische Indianer hier siedelten.

Unser Überleben sichern die Guides von MokiMac. Für unsere Familie ist es die erste All-inclusive-Tour, und wir genießen den Service und das Privileg, uns voll dem Erlebnis Grand Canyon hingeben zu können. Jeden Morgen gegen sechs Uhr werden wir von Larry mit dem Ruf „Hot coffeeeee!“ geweckt. Danach gibt es ein fulminantes Frühstück. Zur Mittagsrast sind im Nu ein paar Tische aufgebaut und ein kleines Buffet darauf gezaubert. Und irgendwie finden sie am späten Nachmittag in der meist engen Schlucht immer einen malerischen Lagerplatz, wo wir kulinarisch verwöhnt werden, gesellig bei Matts Gitarrenspiel den Abend verbringen und uns schließlich mit vollen Bäuchen irgendwo unter freiem Himmel einen Platz zum Schlafen suchen.

Die Fähigkeiten von Larry und seinen Kollegen beschränken sich bei weitem nicht nur darauf, das leibliche Wohl aller Teilnehmer zu garantieren und die beiden Rafts sicher durch die Rapids zu steuern. Alle Vier haben den Grand Canyon schon mehrmals befahren und kennen viele seiner verborgenen Schätze. Immer wieder legen wir tagsüber Zwischenstopps ein oder nutzen die Zeit nach der Mittagspause oder vor dem Abendessen. Dann ertönt der Ruf: „Let’s go hiking!“ Unter der Führung von Bob und den Guides wandern wir in zahllose Seitencanyons, klettern steile Felswände hinauf, waten bis zur Brust durch tief eingeschnittene Bäche, springen Wasserfälle hinunter und seilen uns in Schluchten ab. Wir finden Ruinen, Felszeichnungen und Keramikscherben früher indianischer Siedler, beobachten Maultierhirsche und Bighornschafe und nehmen uns vor Skorpionen und Klapperschlangen in acht. An Hand der verschiedenen Gesteinsschichten erklärt uns Matt in einem anschaulichen Vortrag im Blacktail Canyon die Geschichte der Entstehung des Grand Canyon. Am Little Colorado schlüpfen wir mit den Beinen in die Armöffnungen unserer Schwimmwesten und lassen uns hintereinander aufgereiht wie Bobfahrer auf dem Hosenboden die natürliche Rutschbahn in dem herrlich blauen Wasser hinuntertreiben.

Die Choreographie des Wildwassers im Grand Canyon folgt einem natürlichen Spannungsbogen, wie ihn ein Drehbuchautor nicht besser arrangieren könnte. Ein ständiger Wechsel von Moderato zu sich steigerndem Prestissimo mit einem Finale furioso fast am Ende der Tour. Nicht nur die Namen der Rapids flößen Respekt ein, es gibt Bezeichnungen innerhalb der Rapids, die ahnen lassen, was einen dort erwartet: Land of Giants, Forever-Eddy oder Crystal Hole sind Begriffe für eine andere Dimension des Kanufahrens. Nach dem Vorspiel am ersten Tag mit Badger Creek Rapid, Soap Creek Rapid und House Rock Rapid folgt mit den Roaring Twenties eine Steigerung der Schwierigkeiten. Die ersten Kenterungen: Kanurollen werden gedreht, dort wo die Rolle nicht gelingt, sind sofort andere Kanus zur Stelle. Rescue auf dem Colorado heißt Wiedereinstieg auf dem Fluss. Das gekenterte Boot wird umgedreht und von ein oder auch zwei Helfern im Kanu am Süllrand stabilisiert, während der Schwimmer über den anderen Süllrand zurück in sein Boot klettert. Mit etwas Übung eine Sache von Sekunden.

Ab und an wechseln wir auch die Boote. So, wie es die Schwierigkeiten zulassen, fährt Sarah mal mit Shane oder mit Petra im Duckie, Petra im Detonator oder mit mir im Prospector, während Burt und Bobby nacheinander meinen Spark testen.

Ab dem fünften Tag wird es deutlich anspruchsvoller. Hance Rapid, Sockdolager Rapid, Grapevine Rapid sind gewaltige Stromschnellen. „I can’t spit and I have to pee.“, ist meine Antwort auf Bobs Frage, wie ich mich nach dem Scouten von Hance fühle. Der Adrenalinschub beim Anfahren ist enorm, die befreiende Erleichterung nach der erfolgreichen Befahrung ebenso.

Am späten Vormittag des sechsten Tages erreichen wir Phantom Ranch, den einzigen bewohnten Ort im Grand Canyon. In relativ kurzem Abstand sind zwei Brücken über den Fluss gespannt, die die Wanderrouten zwischen dem Nord- und dem Südrand des Canyons verbinden. Ein kleiner Campground und einige Hütten für Wanderer und Flussfahrer bieten etwas Komfort. Das Hauptgebäude ist gleichzeitig Poststation. „Mailed by Mule at the Bottom of the Grand Canyon“ steht auf dem Stempel unserer Ansichtskarten und bedeutet, dass dies die einzige Station in den Vereinigten Staaten ist, von der die Post noch mit dem Maultier nach draußen, hinauf zum Rand der großen Schlucht befördert wird.

Unser Stopp ist nur kurz, am Nachmittag warten drei der ganz großen Rapids des Colorado auf uns. Wir sind jetzt schon tief in der Inneren Schlucht. Bedrohlich steigen dunkle Felswände senkrecht nach oben, verhindern den Blick auf den Rand des Grand Canyon, der eine Meile, mehr als 1.600 Meter über uns liegt. Zwischen den engen Mauern dringt das Donnern der Stromschnellen frühzeitig an unser Ohr. Wir scouten sehr sorgfältig. Es ist extrem wichtig, sauber zu beschleunigen und die Linie zu treffen. Ist man erst einmal auf den Zug aufgesprungen, sind Korrekturen der Fahrtroute bei dieser Wucht nahezu unmöglich. Immer wieder erinnert uns Bob an die simple Regel mit der Frage: „Remember, who is your friend?“ Und wir antworten fast im Chor: „Speed is your friend!“

Horn Creek Rapid – diagonal von rechts nach links anfahren. Obwohl es nach der ersten Welle fast wie im Fahrstuhl hinunter geht, bleibt rechts unten immer noch ein leerer Raum frei. Dort stürzt das Wasser in ein gewaltiges Loch. Aber die Linie passt und wir kommen fast trocken durch. Das Hochgefühl ist unbeschreiblich.

Granite Rapid – aus dem Augenwinkel sehe ich Lennart vor mir souverän durch das Chaos tanzen, bevor mich recht frühzeitig eine gewaltige Welle seitwärts erwischt. Dreimal versuche ich hochzurollen, dreimal scheitere ich knapp, dann rutsche ich mit dem rechten Knie aus dem Gurt und muss aussteigen.

Hermit Rapid – mit bis zu sechs Metern hat er die höchsten Wellen im Grand Canyon. Im unteren Teil fehlt mir irgendwann die Geschwindigkeit, um den Wasserberg vor mir zu überwinden und ich liege wieder drin. Lennart geht es ähnlich. Das Missgeschick fuchst uns dermaßen, dass wir die Kanus sehr mühsam auf der rechten Seite nochmal hochtragen. Als ich mit meinem Spark über dem Kopf an Matt vorbei stolpere, höre ich ihn anerkennend mit einem Lachen sagen: “Holger, you are a German!” – Beim zweiten Mal befahren wir Hermit mit Erfolg.

Es sind nicht nur die Stromschnellen und die einmalige Landschaft, die uns auf dieser Tour beeindrucken. Das wir mit Bob Foote im Grand Canyon paddeln dürfen, ist für mich so, als wenn ein passionierter Bergsteiger mit Reinhold Messner einen Achttausender erklimmt. Bob ist eine Autorität auf dem Colorado. Mehr als sechzig Mal hat er ihn schon befahren, bekannt auch bei den Guides anderer Gruppen. Schaut euch um, sagt er, das hier wird nie langweilig. Jeden Morgen begrüßt er uns mit: „Good morning, another day in paradise!“ Ihn auf dem Fluss zu erleben, ist für uns die Gelegenheit, viel von ihm abzuschauen. Bob belässt es nicht dabei, sondern gibt uns auf der ganzen Tour immer wieder wertvolle Hinweise. Er ist es, der mit viel Umsicht und Erfahrung den täglichen Ablauf organisiert. Der Wechsel zwischen Kanu fahren und auf dem Raft treiben, zwischen Wandern und Entspannung ist optimal. Besser geht es nicht und es bleiben keine Wünsche offen. Und Bob’s trockener Humor sorgt unterwegs oder abends im Lagerkreis für viel Erheiterung. So erklärt er uns in den Roaring Twenties oberhalb eines Rapids die sichere Route und fährt dann voraus. Und die Gruppe im Gottvertrauen hinterher. Unten sagt dann jemand zu Bob: “Du bist doch ganz anders gefahren, als du uns das erklärt hast!?” “Ja”, sagt er, “vielleicht hätte ich das vorher noch erwähnen sollen.”

Als wir uns unterhalb des Dubendorff Rapid am Morgen von unserem Lager erheben, reiben wir uns verdutzt die Augen. Statt klaren, blauen Wassers scheint sich jetzt zähflüssige Erde durch den Canyon zu wälzen. Irgendwo im Einzugsbereich des Grand Canyons muss ein Unwetter herunter gegangen sein und hat in einem Seitencanyon einen sogenannten Flash Flood ausgelöst. Das sind Springfluten, die gewaltige Massen an Geröll und Sand in den Colorado transportieren und sein Wasser in eine braune Suppe verwandeln. Zu dick zum Trinken und zu dünn zum Pflügen, wie man sagt. Schon Tage vorher meint Bob, er hofft, uns das zeigen zu können, denn das Wildwasser fahren in der Brühe ist nochmal was ganz anderes. Und er hat Recht. Alles wirkt bedrohlicher und es scheint schwieriger, die richtige Linie in den Stromschnellen zu finden.

Aus dem Deer Creek Canyon stürzt ein malerischer Wasserfall senkrecht zum Fluss. Dort oben liegt ein heiliger Platz der Paiute-Indianer. Tief hat sich der Deer Creek in das Gestein eingeschnitten. Wir klettern hinauf und wandern oben durch eine Zauberwelt. Nach einigen hundert Metern weichen die Felswände zurück, sanft plätschert klares Wasser über steinige Stufen, der Schatten großer Bäume lädt zum Rasten ein. An einem Seil klettern wir hinunter in die enge Klamm, waten vorsichtig auf schlüpfrigem Fels und staunen über die Farben des Lichts im Tapeats Sandstone.

Alle Stromschnellen im Grand Canyon liegen an Seitencanyons und sind entstanden, wenn sogenannte Debris Flows Geröll und Schutt in den Colorado befördern und seinen Lauf einengen und behindern. Dabei werden selbst Felsbrocken von der Größe eines Autos mitgerissen. Alle Stromschnellen bis auf eine…

Vor rund vierhunderttausend Jahren gab es unterhalb des Toroweap Overlook einen gewaltigen Vulkanausbruch. Als Folge verstopfte ein fast fünfhundert Meter hoher Lavadamm den Grand Canyon und der Colorado staute sich dahinter zu einem fast dreihundert Kilometer langen See auf. Zäh und unermüdlich ging der Colorado sofort an die Beseitigung dieses Hindernisses, so dass heute fast nichts mehr davon übrig ist. Fast nichts. Bis auf die größte fahrbare Stromschnelle Nordamerikas – Lava Falls.

Lange bevor man Lava Falls sieht, macht dumpfes Dröhnen klar, dass da vorn etwas Gewaltiges wartet. Die Fahrt durch diesen Rapid ist der wildwasser-technische Höhepunkt im Grand Canyon. Nach dem Scouten legt Lennart einen Traumlauf hin. Wenn man ihm zuschaut, ist das Problem für die anderen, dass es so leicht aussieht. Wie ein Korken tanzt der gelbe Detonator unter dem Johlen der ganzen Gruppe durch die gigantischen Brecher. Als ich in die neunzig Meter breite Stromschnelle einfahre, komme ich mir klein und einsam vor. Wo ist eine Linie. Es ist fast egal, in Lava gibt’s keine. Bob meint, es gehört auch Glück dazu, hier durchzukommen. Ich habe keins. Nach der Hälfte drischt mich eine braune Wasserwand unter die Oberfläche. Finsternis. Wo ist oben, wo ist unten? Alles dreht sich wie in einer Waschmaschine. Reflexartig bin ich in Rollposition gegangen, drehe hoch und werde vom nächsten Brecher wieder verdroschen. Schließlich spült Lava Falls mich und mein Kanu getrennt aus. Eigentlich langt es mir. Vince kommt herunter, kentert, bleibt ewig unter Wasser und dreht schließlich auf. Burt und Bobby rauschen quer in eine Walze und werden gnadenlos durchgemixt. Inzwischen juckt’s mich schon wieder. Ich schnappe mein Kanu und stapfe auf der linken Seite noch mal hoch. Aber als ich dann das zweite Mal auf das Inferno zutreibe, denke ich: “Du …, warum tust du dir das nochmal an!” Sauber an der Eingangswalze vorbei, hinein ins Chaos. Doch jetzt kommt mir alles bekannt vor, fast fühle ich mich heimisch. Unten lauert eine tückische Verschneidung: Da kommt er wieder! Und wieder begräbt mich ein Brecher. Diesmal warte ich den geeigneten Moment für die Rolle ab, drehe hoch und balanciere mit vollem Boot durch den Rapid hindurch. – “If you can roll in that water, you can roll in any water!”, lautet Bob’s Anerkennung für Vince und mich.

Zwei Tage bleiben uns noch im Paradies. Zwei Tage Adrenalin in den Stromschnellen, entspanntes Gleiten in den Flachpassagen und Wandern unter der heißen Sonne Arizonas. Zwei Nächte Sternenglanz zwischen den Canyonwänden, bis sie im aufgehenden Mond verblassen und der Colorado wie flüssiges Metall glänzt.

Am Diamond Creek erreichen wir die Aussatzstelle und rumpeln in einem ausgedienten Schulbus hinauf nach Peach Springs an der Route 66. Der Abschied fällt schwer. Es war ein einmaliges Erlebnis in einer einmaligen Landschaft und einem wundervollen Team, und es war eine Ehre für uns, mit Bob Foote durch den Grand Canyon zu paddeln.

The hardest part of the trip was not to carry up my canoe Hermit Rapid or to run Lava Falls twice, the hardest part was to say Good-bye to that group of wonderful people. Thank you all!