Vom Hess River zum Grizzly Lake 1

TEIL 1: VOM PORTER LAKE AUF HESS RIVER UND STEWART RIVER NACH MAYO

“The Hess River will appeal to experienced canoeists, especially paddlers looking for difficult whitewater in a pristine, remote setting.“ Ken Madsen

Der Hess River gilt als einer der an Wildwasser reichsten Flüsse im Yukon Territorium. Übliche Einsatzstellen für seine Befahrung sind meist entweder der Keele Lake vor dem gewaltigen Bergpanorama des vergletscherten Keele Peak. Über den Keele Creek erreicht man den Hess River dann direkt unterhalb von dessen schwierigstem Wildwasser-Abschnitt. Oder: Rund siebzig Kilometer stromauf von der Mündung des Keele Creek liegt mitten in der Bergtundra der Porter Lake. Der kleine Bergsee fast direkt auf der Wasserscheide ist das Ziel des Buschflugzeuges, mit dem wir an einem Spätsommertag durch die Selwyn Mountains brummen. Peter aus Österreich, Petra und ich haben uns auf den Weg gemacht, um den Hess River fast von seinem Ursprung bis zur Mündung in den Stewart River und auf diesem weiter bis zu dem Dörfchen Mayo zu befahren. Dort sind wir vor einer guten Stunde mit der Beaver gestartet. Inzwischen liegen die bewaldeten Hügelketten am Stewart River hinter uns. Vor uns wachsen steingraue Bergriesen in die Höhe und scheinen immer dichter zusammen zu rücken. Auf den Gipfeln liegt frischer Schnee. Zielsicher kurvt der Pilot zwischen ihnen hindurch. Wir folgen dem Verlauf der Täler, dann ein Sprung über einen Bergrücken hinein ins nächste Tal. Schließlich brausen wir durch ein weites Felsentor, ein Schwenk nach rechts und vor uns liegt das Selwyn Valley. Schmal, mit vielen Windungen schlängelt sich unter uns der Hess River nach Südosten. Der Porter Lake ist durch einen flachen Bergrücken vom Fluss getrennt, dass ist die Portage von morgen und sie sieht einfach aus. Der Ausfluss des Sees ist kaum auszumachen, keine Chance, darüber zum Fluss zu kommen.

Sanft setzt die Beaver auf. Zum Ufer wird der See so flach, dass die Maschine nicht nahe genug heran kommt. Wir binden den 17 ft. Prospector vom Schwimmer und bringen uns und das Gepäck damit in mehreren Gängen an Land. Wenig später ist das Flugzeug schon wieder in der Luft und wir sind allein. Obwohl die Sonne scheint, ist es kalt hier auf rund 1.300 Metern Höhe. Der Uferbereich ist dicht mit zähem Busch bewachsen. Mit Mühe finden wir wenigstens Platz für eines unserer Zelte und verbringen die erste Nacht zu dritt in unserem Tentipi. Als ich am nächsten Morgen den Reißverschluss öffne, ist die Zeltplane steif gefroren. Draußen glitzert eine dicke Schicht Raureif und die Berghänge sind bis ins Tal herunter mit frischem Schnee bedeckt. Der Himmel ist kalt und klar und wir freuen uns auf einen sonnigen Tag. Während des Frühstücks ziehen dunkle Wolken auf und bald darauf reduziert dichtes Schneegestöber die Sicht auf wenige Meter.

Als wir wenig später die ersten Packen schultern, enttarnt sich die scheinbar einfache Portage als echte Herausforderung. Der mit übermannshohem Gebüsch dicht bewachsene Hang ist überhaupt nicht flach. Mühsam bahnen wir uns einen Weg nach oben. Mit ausgestreckten Armen teilen wir das nasse Geäst, hinter uns schließt sich das Dickicht sofort wieder. Durch Zurufen dirigieren wir uns gegenseitig, um uns nicht zu verlieren. Geschmolzener Schnee läuft in Kragen und Ärmel, Schweiß durchnässt uns von innen. Endlich oben ist die Sicht gleich Null – wo geht’s zum Fluss? Wir markieren das Gepäck, indem wir unsere Paddel so daran befestigen, dass sie über den Busch ragen, damit wir die Stelle wieder finden und holen zunächst in mehreren Gängen den Rest der Ausrüstung. Dann folgen wir einigen Wildwechseln, die den Hang hinunterführen. Nach mehreren Etappen erreichen wir am frühen Nachmittag schließlich völlig durchnässt ein schmales Bächlein, dass sich in die Tundra eingeschnitten hat – der Hess River. Wir stärken uns mit heißer Fleischbrühe, Peter macht seinen Outside klar, wir beladen unser Kanu. Dann beginnt unsere rund fünfhundert Kilometer lange Rückfahrt nach Mayo.

Der Hess River ist zunächst ein kurvenreicher, erstaunlich tiefer Wiesenbach, so schmal, dass wir kaum unseren Prospector wenden könnten. Immer wieder stoßen wir auf Biberdämme. Einer von ihnen hat die Dimension eines kleinen Staudammes. Wir müssen aussteigen und das Kanu am Seil hinunterlassen. Nach einigen Kilometern wird das Flussbett allmählich breiter. Allein, die Wassermenge reicht nicht aus, um es in Gänze zu füllen. In den nächsten Tagen werden wir und insbesondere Peter in seinem Outside den Begriff Wasserwandern im wahrsten Sinne des Wortes verinnerlichen. Immer wieder setzen wir auf, müssen aussteigen und die Boote über flache Passagen ziehen. Das Wetter bleibt kalt, ein Mix aus Regen, Schnee und Hoffnung weckenden, sonnigen Abschnitten. Die Nächte sind frostig. Aber bereits nach dem ersten Flusstag erreichen wir die Ausläufer der Taiga und damit den Zugriff auf Feuerholz. Ab jetzt haben wir die tägliche Aussicht auf eine warme Behausung und in der Zeltspitze trocknende Kleidung. Ein großer, grauer Wolf, der uns neugierig vom linken Ufer beäugt, ist das erste Highlight aus der Fauna. Unmittelbar vor uns queren zwei Elche den Fluss. Später entdeckt Petra einen großen, braunzottigen Grizzly kaum zehn Meter entfernt auf der Uferbank. Nach einer spannenden Phase des gegenseitigen Beobachtens dreht er sich um und verschwindet im brechenden Unterholz.

Als wir einige Tage später unseren Lagerplatz unweit des Keele Peak-Massivs verlassen, liegt die erste und zugleich anspruchsvollste Wildwasser-Passage des Hess Rivers vor uns. Nach gut zwei Kilometern nimmt das Gefälle deutlich zu, Felsbrocken verblocken den Flusslauf. Wir fahren den ersten Abschnitt auf Sicht und nutzen ein Kehrwasser in der nächsten Biegung zum Scouten. Halleluja – hier geht’s ganz schön ab. Steil und stark verblockt sprudelt der Hess River nach unten. Zwar hat der Fluss jetzt im Spätsommer Niedrigwasser, aber das macht die Angelegenheit nicht unbedingt einfacher. So gibt es einige Zwangspassagen im Schwierigkeitsgrad 3 bis 4, denen man bei höherem Wasserstand vielleicht ausweichen könnte. Sehr sorgfältig erkunden wir den nächsten, jeweils einsehbaren Bereich, besprechen die Route und folgen ihr konsequent bis zum vereinbarten Kehrwasser. Es wird reichlich Adrenalin freigesetzt. Unser Kanu ist voll beladen und wie immer haben wir auch noch einen Vorrat Feuerholz vom letzten Lagerplatz an Bord. Wucht und Steilheit sind beeindruckend, in einer der Walzen schlagen die Wellen derart über uns zusammen, dass sie die Persenning auf der Heckposition eindrücken. Trotzdem bewegen wir uns noch im Komfortbereich und haben nie das Gefühl, dass unser Ritt außer Kontrolle gerät. Für Peter allein im schwerbeladenen Outside ist es da schon schwieriger. So gibt es Passagen, wo wir sein Boot gemeinsam nach unten treideln oder sogar ausladen und die mühsame Portage dem Unkalkulierbaren vorziehen. In diesem Stil passieren wir gegen Mittag die Mündung des Keele Creek und haben das Anspruchsvollste hinter uns.

Die in den nächsten Tagen auftauchenden Stromschnellen können uns nicht mehr erschüttern. Das Wetter bessert sich zusehends, auch wenn die Schneefallgrenze nur einige hundert Meter über dem Fluss liegt. Wir nutzen einen Ruhetag oberhalb des Niddery Lake für eine schöne Wanderung in die Berge und haben von oben eine fantastische Aussicht bis zu den weißen Gipfeln des Keele Peaks. Am nächsten Tag passieren wir den Hess Canyon. Es gibt mehrere Stromschnellen, die Felswände links und rechts bestehen aus scharfkantigen Schieferplatten. Die mit verkohlten Baumleichen gesprenkelten Berghänge darüber zeugen von einem gewaltigen Buschfeuer vor einigen Jahren. Auf dem Weg zur Mündung des Rogue River entdecken wir drei Wölfe, die am linken Ufer stromauf ziehen. Einige Kilometer weiter treffen wir auf eine äsende Elchkuh mit ihrem Kalb. Als sie uns entdecken, verschwinden sie im Unterholz, nur um kurz darauf auf einer wenige Meter stromab liegenden Kiesbank aufzutauchen und sich in vollem Lauf in den Fluss zu stürzen. Während wir auf sie zu treiben, bleiben die Elche in der Mitte stehen. Das Muttertier ist sichtlich erregt. Die Ohren nach hinten gelegt, das Weiße in den Augen hervortretend, wirft sie den mächtigen Schädel und gibt drohende Laute von sich. Ohne einen Mucks treiben wir nur wenige Meter entfernt vorbei und sind froh, als sich der Abstand vergrößert. Eine ungewöhnliche Aktion, aber eindeutig eine Warnung. Wir vermuten, dass es vorher eine Begegnung mit dem Wolfspack gab und die Elchkuh deshalb noch so erregt ist.

Unsere zweite Wanderung führt uns in die Ausläufer der Russel Range südlich des Flusses. Von unserem Lagerplatz können wir den vor uns liegenden Anstieg gut einsehen. Bis weit hinauf ist die Bergflanke altes Waldbrandgebiet, aus dem dürre Baumleichen wie schwarze Stacheln ragen. Dazwischen leuchtet rot das Fireweed und es scheint, als gäbe es dort gutes Vorwärtskommen. Welch ein Irrtum! Was von unten wie begehbares Moos und niedriges Gesträuch zwischen den stehenden, verkohlten Bäumen aussah, entpuppt sich jetzt als ein wilder Hindernisparcour. Überall dichtes Gestrüpp, darunter hält sich ein Mikado aus umgestürzten schwarzen Stämmchen versteckt. Darüber kletternd, darauf balancierend, wühlen wir uns nach oben. Oft genug bricht das Totholz durch, Wumm! und wir stehen eine halbe Etage tiefer. Zur Entschädigung laben wir uns an den Heidelbeerbüschen, die voll blauer Früchte hängen. Drei Stunden später und etwa siebenhundert Höhenmeter über dem Hess River haben wir wieder festen Boden unter den Füßen und genießen den herrlichen Rundblick im Sonnenschein.

Am Tag darauf wartet mit der Medusa die letzte große Wildwasser-Schwierigkeit des Hess River auf uns. In der griechischen Mythologie ist die Medusa ein hässliches Ungeheuer, bei dessen Anblick man sofort zu Stein erstarrt. Als wir die Stromschnelle scouten, geht es uns, aus anderen Gründen, fast genauso. Im Eingangsbereich wird die Strömung in einer engen, sehr wuchtigen Zwangspassage mit gewaltigen Wellen zusammengepresst. Im weiteren Verlauf teilt ein großer Felsblock die Strömung in der Mitte. Der Hauptteil zieht rechts daran vorbei. Nach einer steilen, dunklen Stromzunge treffen die geteilten Strömungen in einem chaotischen Durcheinander brechender Wellen wieder aufeinander und ziehen auf die senkrechte Felswand auf der rechten Seite. Unmittelbar danach verlässt das turbulente Wasser die Medusa durch ein etwa 12 bis 15 Meter breites Felsentor. Und genau dieser Abfluss – es ist kaum zu glauben – wird in voller Breite durch einen gewaltigen, angeschwemmten Baum versperrt. Ein Blick auf das umliegende Gelände zeigt, dass eine Portage hier kein Spaziergang wird. Die Stromschnelle ist schwer, aber machbar, nur dieser verflixte Baum da unten … In den nächsten beiden Stunden versuchen Peter und ich den Stamm da wegzubekommen. Wir wechseln auf die linke Flussseite und klettern hinunter. Wie ein Cowboy fängt Peter nach etlichen Versuchen den Wurzelstock mit dem Wurfsackseil. Wir ziehen und zerren, und der Baum bewegt sich tatsächlich. Plötzlich kommt die Baumspitze auf der anderen Seite frei, schwenkt mit der Strömung nach unten, wir jubeln, leider zu früh – denn nur zwei Meter weiter verkeilt sich der Stamm wieder auf’s Neue. Ein Warnruf von oben. Wir drehen uns um. Petra zeigt mit dem ausgestreckten Arm in die Strömung. Da kommt ein ausgewachsener Baum getrieben und nimmt Kurs auf das Hindernis. Neue Hoffnung kommt auf: Vielleicht schafft er, was uns nicht gelingt. Mit voller Wucht knallt das dicke Ende gegen den quer liegenden Stamm. Durch den geht ein kurzes Vibrieren, dann wird der Angreifer unter Wasser gedrückt und taucht in einem Stück, aber seiner Äste entledigt, auf der anderen Seite wieder auf. Die Medusa schüttelt ihr Haupt: Netter Versuch! Inzwischen regnet es in Strömen und der dunkle Himmel verstärkt die bedrohliche Atmosphäre. Trotz der Baumblockade gibt es eine Möglichkeit die Stromschnelle zu befahren. Nachdem ich mir den Eingangsbereich nochmals sehr genau angeschaut habe, gehen es Petra und ich an. Anfahrt möglichst weit rechts, dabei soviel Geschwindigkeit wie möglich aufnehmen. Die Wellen sind riesig. Ich habe das Gefühl, Petra schwebt im Bug senkrecht über mir. Wenn die Bootsmitte auf dem Scheitel der Welle ist, hat Petra im Bug bestimmt drei Meter Luft bis zum nächsten Wellental unter sich. Kurzes Aufatmen im Rücklauf. Dann mit Schwung rechts an dem großen Felsblock vorbei, dabei hoch links auf der Stromzunge bleiben und die Strömung diagonal kreuzen. Unten sichert Peter unmittelbar vor dem Baumhindernis mit dem Wurfsack. Dort legen wir an, hier pilzt und pulsiert das Wasser. Ich klettere auf den Stamm, Petra bleibt sitzen und mit Peters Hilfe ziehen und schieben wir das Kanu über den Stamm – geschafft. Bei der nächsten Gelegenheit legen wir links an, klettern zurück und helfen Peter bei der Portage um die Medusa.

Der letzte Abschnitt auf dem Hess River führt uns am nächsten Tag durch einen malerischen Canyon, bevor wir wenig später die Mündung in den Stewart River erreichen. Jetzt liegen noch rund einhundertsechzig Kilometer auf dem größeren Fluss mit seinen lang gezogenen Kurven vor uns. Das Wetter bessert sich wieder und gibt den Blick auf bewaldete Bergzüge frei. Schon längst ist der Herbst eingekehrt und die Hänge leuchten im Gelb des Birkenlaubes und dem Grün der Fichten. Wir fürchten den Gegenwind, doch er bleibt aus und so kommen wir gut vorwärts, trotz der trägen Strömung. Am vorletzten Tag gibt es in den Five-Mile und Three-Mile-Rapids noch eine spritzige Abwechslung. Die folgende achthundert Meter lange Portage um die Fraser Falls ist in einer knappen Stunde geschafft. Ab hier scheint der Fluss seine Aktivitäten ganz einzustellen. Jedenfalls können wir keine nennenswerte Strömung mehr feststellen und das Paddeln wird zäh auf dem Stewart “Lake”. Als wir uns Mayo nähern, werden wir von Gewehrschüssen begrüßt. Die Jagdsaison hat begonnen und an der Floatplane Base sind Jagdtouristen dabei, ihre Büchsen einzuschießen. So gelangen wir ziemlich geräuschvoll wieder in Kontakt zu den Ausläufern der Zivilisation, nachdem uns seit dem Start am Porter Lake keine Menschenseele begegnet ist.