Vom Hess River zum Grizzly Lake 3

TEIL 3: GRIZZLY LAKE – HIKING IN DEN TOMBSTONE MOUNTAINS

Zwei Jahre vor unserer Reise zum Hess River beendeten wir eine regenreiche Tour den Bonnet Plume River und den Peel River hinunter schließlich in Fort McPherson. Während der Rückfahrt auf dem Dempster Highway nach Dawson City verwöhnte uns die Sonne mit herrlichen Ausblicken. Nach stundenlanger Fahrt erreichten wir kurz vor der Dämmerung den North Fork Pass. Die Straße neigte sich nach unten. Wenig später kletterten wir aus dem Van, um uns die Beine zu vertreten. Den westlichen Horizont dominierte eine atemberaubende Felsformation, die uns an die wilden Berge Patagoniens erinnerte. Die Rückfrage bei Tom, unserem Fahrer, ergab die Auskunft: Das sind die Tombstone Mountains – ein wildes und einsames Hochgebirgsparadies. Sehr schnell stand für uns fest, dass wir hierher zurückkehren wollen.
Nun war es endlich soweit. Am frühen Morgen verlassen wir Dawson City. Wir sind fast die letzten, der Campground wird heute geschlossen und beginnt seinen langen Winterschlaf. Dichter Morgennebel hängt über dem Tal und es ist frostig kalt. Nach rund vierzig Kilometern ein Tankstopp an der Klondike River Lodge, dann biegen wir auf den Dempster Highway ab und rollen nach Norden. Inzwischen triumphiert die Sonne über die Nebelschwaden. Dichter Busch säumt die Schotterstraße, im North Klondike River dampft das Wasser und vor uns ragen die Ogilvie Mountains in die Höhe. Am Parkplatz an der Mündung des Grizzly Creek rollen wir zunächst vorbei, um uns im zwölf Kilometer entfernten Visitor Center das erforderliche Permit zu holen. Wenig später machen wir uns am Trailhead startklar. Da Petra und ich nicht unbedingt für Hochgebirgswanderungen ausgerüstet sind, müssen wir ein wenig improvisieren. So tragen wir unsere Kanustiefel, ich schultere einen Duluth Pack mit dem Notwendigsten, wie Isomatten, Schlafsäcken, sowie Trockenhosen und Filsonjacken, die uns vor Regen und Kälte schützen sollen. Obenauf wird der Pelicase mit der Fotoausrüstung geschnallt. Das Tentipi bleibt im Auto, nur die Moskitotarp wurde in den Packsack gestopft. Selbst das Mückennetz haben wir abgenommen, um Gewicht zu sparen.

Peter, ganz Bergmensch aus dem Zillertal, ist hier offensichtlich in seinem Element und schreitet munter voran. Zunächst nur leicht ansteigend schlängelt sich der Pfad durch den schattigen Wald. Schnell wird uns warm und bei der ersten Rast legen wir überflüssige Kleidung ab. Wenig später beginnt der steile Anstieg. Je höher wir kommen, desto niedriger werden die Bäume und rücken auseinander. Dazwischen macht sich dichtes Buschwerk breit. Nach einer guten Stunde krabbeln wir aus dem Busch auf ein kleines Plateau, welches endgültig die Baumgrenze markiert. Gleich wird der Atem freier und der Blick auf die Bergkulisse ist überwältigend. Das weite Tal verengt sich zum westlichen Horizont und wird durch die imposante Felsformation des Mount Monolith begrenzt. Direkt darunter können wir den Grizzly Lake erkennen. Das wird noch ein langer Weg, zumal der kaum erkennbare Trail nicht ins Tal hineinführt, sondern uns auf den steilen Grat zur Rechten zwingt. Immer das Ziel vor Augen, geht es sehr direkt höher und höher hinauf, ohne dass wir das Gefühl haben, ihm näher zu kommen. Immer wieder ein kurzer Stopp zum Verschnaufen, aber dann werden wir mit tollen Ausblicken belohnt. Nach zweieinhalb Stunden, wir sind schon deutlich über dem Niveau des Grizzly Lake, folgt ein kurzer Abstieg vom Grat in einen Sattel. Von dort führt der Pfad in ständigem, Kräfte zehrendem Auf und Ab an der Bergflanke entlang immer weiter hinauf. Wir sind versucht, die direkte Linie zu unserem Ziel schräg nach unten zu suchen. Aber dort wartet nur dichtes Gestrüpp. Immer wieder queren wir Geröllfelder, wo es schwieriger wird, die Richtung zu halten, da wir unmittelbar auf den nächsten Schritt achten müssen.
Ein Moment der Unaufmerksamkeit schmeißt mich kopfüber in den Schotter. Mit der rechten Hand schütze ich den vor der Brust baumelnden Fotoapparat, mit der linken versuche ich den Sturz abzufangen. Der Schwung schiebt mir den Duluth Pack in den Nacken, der Pelicase knallt mir auf den Hinterkopf. Gebremst wird das Ganze endlich, als meine Stirn die Steine küsst. Für einen Moment bin ich der Mittelpunkt eines Universums, um den sich alles dreht. Sauber, Hans-guck-in-die-Luft! In der nachfolgenden Visite werden eine zerschrammte Hand, die sich aber bewegen lässt, und ein brummender Schädel diagnostiziert. Wir stapfen weiter und ich achte darauf, nicht noch eine zweite Verwarnung zu kassieren.
Endlich neigt sich der Pfad steil am Hang entlang endgültig nach unten. Abwechselnd queren wir Schotterbänke trockener Bachläufe und dichtes Buschwerk. Nach knapp fünf Stunden überspringen wir den Grizzly Creek direkt am Ausfluss des Sees und erreichen den einfachen Camp Site. Um die fragile Hochgebirgsnatur zu schützen, hat die Parkverwaltung ein Kitchenshelter mit einer bärensicheren Aufbewahrungsmöglichkeit für die Verpflegung und verstreut liegende, hölzerne Plattformen als Basis für die Zelte errichtet. Man hat die freie Wahl, aber unbewohnt sind sie nicht. Kaum haben wir uns ein idyllisches Plätzchen gesucht, raschelt es unter den Brettern und der Untermieter, ein Erdhörnchen, schaut gar nicht scheu nach dem Rechten. Wir wollen die Tarp spannen, aber hier oben ist Holz absolute Fehlanzeige. Ehe wir mit Steinen und dem einsamen Busch neben unserer Plattform anfangen, etwas zu improvisieren, bitten wir unsere Nachbarn, ein junges Pärchen, das kurz vor uns angekommen ist, um zwei ihrer Teleskopstöcke für die Nacht. Wir spannen die Plane giebelförmig und rollen unsere Matten und Schlafsäcke darunter aus. Bald verschwindet die Sonne hinter dem Mount Monolith und es wird empfindlich kalt. Schnell ziehen wir alle verfügbaren Klamotten an, laufen zum Kitchenshelter und kochen unser Abendessen. Einige wenige Hiker lagern hier oben. Die Tombstone Mountains sind ein Traumrevier für den Hochgebirgswanderer. Mit ausreichend Verpflegung kann man hier ausgedehnte Mehrtageswanderungen unternehmen. Die abgeschiedene Lage verhindert Massenaufläufe. Dazu kommt, dass der Anmarsch oft durch dichten, nahezu weglosen Busch verläuft und die Routenführung oberhalb der Baumgrenze meist kompromisslos direkt und steil ist. Aber die atemberaubende Bergkulisse, die auch schon als das Patagonien des Yukon bezeichnet wurde, lohnt jede Anstrengung. Vor dem Schlafengehen machen wir noch einen kleinen Spaziergang am See. Stille umfängt uns. Dunkel, fast drohend wachsen die Felswände senkrecht in den Himmel, ganz oben glänzen die höchsten Spitzen noch im letzten Licht der Abendsonne.
Kalt und klar wird es Nacht. Wir kuscheln uns in die warmen Schlafsäcke und obwohl das Thermometer wieder unter den Gefrierpunkt fällt, verbringen wir eine angenehme Nacht im Freien. In der Morgendämmerung werde ich wach, strecke die Hand aus dem Schlafsack und hebe den Rand der Tarp an. Raureif rieselt herunter, aber so wird der Blick frei und ich sehe, wie sich im Osten der Himmel rot färbt. Das verspricht, ein schöner Sonnenaufgang zu werden. Wenig später kraxle ich mit Peter den steilen Schotterhang zu unserer Linken nach oben. Wir sind schon hoch über unserem Lager, als die ersten Sonnenstrahlen den Gipfel des Mount Monolith erreichen. Sanft streicheln sie nach unten und tauchen den Fels langsam in rotes Licht. Still und klar liegt der Grizzly Lake im Tal, der perfekte Spiegel für das Schauspiel.
Peter klettert noch weiter hinauf. Ich lehne mich an das Gestein und genieße den Ausblick. Unten im Camp hat Petra schon die Tarp abgebaut. Der Grizzly Creek verlässt als schmaler Silberstreif den See und windet sich durch die Bergtundra zum North Klondike River weit unten im Tal. Über dem Tal thront die nächste Bergkette im Osten. Und irgendwo weit dahinter liegt der Porter Lake, beginnt der Hess River seine Reise durch das Selwyn Valley. Was für ein Land! Was für eine Reise!