GR 20 – Mit Rucksack und Zelt über das Gebirge im Meer

„Dieser hauchzarte Duft nach Thymian und Mandeln, Feigen und Kastanien … und dieser Hauch von Kiefer, diese leichte Andeutung von Beifuss, diese Ahnung von Rosmarin und Lavendel … Ach, meine Freunde, dieser Duft! Das ist Korsika!“ Osolerminix in „Asterix in Korsika“

Es ist kein Wunder, dass viele, die diesen Duft einmal gespürt haben, immer wieder kommen auf die Insel, die schon in der Antike von den Griechen “Kalliste” – die Schönste – genannt wurde. Auf unserer Osterreise im Jahr zuvor hatten wir im wasserreichen Frühling insbesondere die Wildflüsse Korsikas kennengelernt. Einige Wandertouren bis hinauf in die damals noch schneebedeckten Gebirgsregionen machten Lust auf mehr. Dort oben formen mehr als siebzig Zweitausender das felsige Rückgrat der Insel, daher der Beiname “Gebirge im Meer”. Mitten durch diese Bergwelt führt eine Herausforderung, die alljährlich eine große Zahl ambitionierter Bergwanderer aus aller Welt anzieht, der Fernwanderweg GR 20. Dieses Jahr gehören auch wir dazu. Vor uns liegen durchschnittlich fünfzehn Tagesetappen, eine von den jeweils gewählten, möglichen alpinen Varianten abhängige Streckenlänge von 180 bis 200 Kilometern und zwischen 10.000 bis 12.000 Höhenmetern. Trotz Hochgebirgserfahrungen in den Anden nehmen wir unser Unternehmen GR 20 nicht auf die leichte Schulter. In der Recherche stoßen wir auf genügend Berichte, die glaubhaft machen, dass dies kein Kindergeburtstag ist. Hohe Temperaturen, das Streckenprofil und die Beschaffenheit des Trails sind in diesem Zusammenhang die meist genannten Stichworte. Durch gute Vorbereitung haben wir versucht, in eine Form zu kommen, die es uns ermöglicht, solch eine Tour auch zu genießen. Dazu gehörte zum Beispiel, im Training den Alpinehang in Goldlauter drei Mal hintereinander mit vollem Gepäck hinaufzustiefeln, unsere Ausrüstung optimal abzustimmen, die Verpflegung energiereich auszuwählen und zu portionieren.
Da wir den Trail von Conca im Süden nach Calenzana im Norden laufen wollen, beginnt unser Aufenthalt in Korsika mit der logistischen Herausforderung, zunächst einen sicheren Platz für unser Gespann und eine Transportmöglichkeit an den Start zu finden. Von Bastia fahren wir auf der Küstenstraße nach Süden. In Aleria ein Cappuccino-Stopp in einer Cafeteria. Es ist Ende August, immer noch Hochsaison und die Campingplätze am Meer sind entsprechend frequentiert. Nach diversen Versuchen erreichen wir am Nachmittag die malerische Bucht von Fautea – und bekommen erstaunlicherweise den wohl schönsten Platz auf dem dortigen Campingplatz. Nach dem Einrichten genießen wir das Bad im Mittelmeer – URLAUB!

Auf dem GR 20 Süd von Conca nach Vizzavonna

So verlockend schön es hier auch ist, Fautea soll nur unser Basislager für den südlichen Teil des GR 20 sein. Conca liegt ohne öffentliche Verkehrsanbindung etwa fünfzehn Kilometer entfernt im Inneren der Insel. Das Angebot der Taxifahrer liegt bei 150 Euro. Wir verzichten dankend! Nett und hilfsbereit vermittelt uns der junge Mann von der Rezeption einen privaten Kontakt, der uns am nächsten Morgen hinüber nach Conca bringt. Gegen neun Uhr können wir unser Abenteuer GR 20 starten. Neugierig und voller Respekt klettern wir zunächst im Schatten des Waldes bergauf. Nach dreißig Minuten erreichen wir das Felsentor Bocca d’Usciolu und die erste Anstrengung weicht Euphorie. Vor uns ragen spektakuläre Felsformationen aus der grünen Macchia. Rechts funkelt das Meer in der Sonne. Davor die Ostküste, wo wir gestern noch auf der Suche nach einem Campingplatz unterwegs waren. Beschwingt laufen wir weiter. Der Pfad wellt sich dahin. Dann der steile Abstieg zu den traumhaften Badegumpen am Punta-Pinzola-Bach. Knackiger Gegenanstieg. Oben gemütlich auf aufwendig gebautem Weg durch schönen Kiefernwald. Dann beginnt ein langer, wechselnd steiler Anstieg. Nach zweieinhalb Stunden Mittagspause bei den Ruinen der Cabanes de Capellu. Steil und auf unwegsamen Pfad steigen wir zwischen wilden Felsen und der allgegenwärtigen Macchia höher. Immer wieder folgt ein weiterer Aufschwung, bis es zunächst kletternd und dann sehr steil und schottrig hinab geht. Am Horizont taucht wieder das Meer auf. Es scheint uns sehr lang, bis der Abstieg ausschwingt. Rechts kommt die eindrucksvolle Punta di l’Anima Damnata, eine gewaltige , einzeln stehende Säule in Sicht. Dahinter die breite Wand der Punta Tafunata di i Paliri mit dem charakteristischen Loch im Fels. Darunter befindet sich das Refuge de Paliri. Der Weg dahin zieht sich allerdings noch in einem weiten Bogen, bis wir nach steilem Schlussanstieg endlich am Ziel sind. Das Refuge liegt wunderschön vor der mächtigen Felswand mit Schatten spendenden Lariciokiefern. Wir bauen auf, öffnen alle Eingänge am Zelt und strecken uns im Inneren aus. Vor knapp zwei Tagen sind wir zu Hause aufgebrochen. Und jetzt ist die erste Etappe geschafft. Wir sind zufrieden. Nach dem Abendessen genießen wir unseren Tee auf luftigem Aussichtspunkt. Die untergehende Sonne taucht die Felsen in warmes Licht. Tief unten erkennen wir einige weiße Segel auf dem Tyrrhenischen Meer.
Um sechs Uhr stehen wir auf. Der frühe Start gehört zu unserem Plan, wiewohl andere noch zeitiger aufbrechen. Bevor wir in die Bergschuhe schlüpfen, schmieren wir die Füße dick mit Hirschtalgcreme ein. Blasen an den Füßen sind so ziemlich das Letzte, was man sich beim Wandern wünscht. Auch das haben wir zu Hause ausgiebig getestet. Und tatsächlich sollten wir von derartigen Blessuren verschont bleiben. Während die Sonne über dem Meer aufgeht, wenden wir uns in den Wald, steigen hinauf zur Foce Finosa (1.206 m). Auf der anderen Seite geht es wieder tief hinunter, bis wir eine kurze, ebene Strecke auf einer Waldstraße verschnaufen können, bevor der Anstieg zum Col de Bavella beginnt. Über den Pass verläuft die Strasse von Solenzara an die Westküste. Wir schonen unsere Vorräte und füllen unsere Energiedepots in einem der kleinen Restaurants mit Coca-Cola und Gebäck auf. Wir fühlen uns gut und beschließen, statt der Originalroute die wesentlich anspruchsvollere alpine Variante zwischen den Bavella-Türmen zu wählen. Es wird eine sportliche Angelegenheit, bei der wir Hände und Füße am Fels brauchen. Die Szenerie schreit förmlich nach Superlativen. Der wilde Granit der Bavella-Gruppe, im Osten das Tyrrhenische Meer, im Westen das Mittelmeer, im Süden erkennen wir die Umrisse Sardiniens und vor uns baut sich am Horizont der Monte Incudine auf. Dessen Besteigung wird der Frühsport des nächsten Tages. Jetzt aber folgt ein steiler Abstieg ins Asinao-Tal, wo wir wieder auf den GR 20 treffen. Überwiegend bequem auf weichem Waldboden wandern wir leicht ansteigend das Tal hinauf, bis nach der Überquerung des Asinao-Baches noch zweihundert steile Höhenmeter zum Refuge d’Asinao auf uns warten. Die Lagerplätze sind staubig hier oberhalb der Baumgrenze, dafür gibt es ungehinderte Ausblicke hinüber zur Bavella-Gruppe und ins Asinao-Tal.
Als wir am nächsten Morgen aufbrechen, leuchtet der Gipfel des Incudine im Licht der aufgehenden Sonne. Es wird anstrengender Frühsport bis wir nach knapp zwei Stunden oben am Gipfelkreuz stehen und bei stürmischem Wind den phantastischen Rundblick unter wolkenlosem Himmel genießen. Im Nordwesten wird die Aussicht vom Denkmalsgrat dominiert. Dort, wo er auf den Monte Fornicola stößt, liegt das Refuge d’Usciolu, das Ziel der heutigen Etappe. Fast den gesamten Wegverlauf können wir von hier oben einsehen, und es sieht weit aus. Aber es wird eine abwechslungsreiche Tour. Vorbei an den Resten der abgebrannten Bergerie Pedinelli steigen wir tief hinunter zur Hängebrücke über den Casamintellu-Bach. Durch offenes Gelände zieht sich der tief ins Wacholdergestrüpp eingeschnittene Pfad tendenziell ansteigend nach Norden. Vor dem steilen Aufstieg zum Denkmalsgrat rasten wir im Buchenwald. Als wir oben aus dem Wald herausklettern, packt uns der zum Sturm ausgewachsene Westwind. Mit den schweren Rucksäcken taumeln wir um unser Gleichgewicht kämpfend voran, bis der Klettersteig durch eine schmale Scharte nach rechts auf die Ostseite führt. Nach wenigen Metern umfängt uns Stille, kein Lüftchen regt sich, wir können uns unterhalten, ohne zu schreien und den Rundblick von Monte Incudine über das Meer bis zum Monte Fornicola genießen. Der Grat hat durchaus kitzlige Kletterpassagen, bei denen wir immer wieder die Seiten wechseln müssen. Der Sturm macht es nicht einfacher. Einmal verpassen wir einen Übergang und sind dabei, uns in gefährliches Gelände zu versteigen. Ein französisches Pärchen, das die Stelle schon hinter sich hat, bekommt das mit. Der junge Mann rennt zurück und gibt uns mit Handzeichen zu verstehen, wo der Pfad verläuft. Ein Glück! Der Grat zieht sich jetzt am Ende des langen Tages durch das ständige Auf- und Abklettern ins Unendliche. Das Refuge d’Usciolu sehen wir schon seit einer ganzen Weile, aber es will einfach nicht näher kommen. Endlich, nach gut neun Stunden erreichen wir das schön und vor dem Sturm geschützt gelegene Refuge. Schnell steht das Zelt, nach der erfrischenden Dusche entspannen wir bei Kaffee und Mandelriegel. Unser Zeltnachbar kommt aus Quebec, natürlich fährt er auch Kanu. Saguenay, Georg River – ruckzuck sind wir im Gespräch.
Der nächste Tag beginnt mit dem Aufstieg zum Monte Fornicola. Eine einsame Wolke hat sich am Gipfel des Incudine verfangen und wird vom Wind in die Länge gezogen. Auch uns packt der Sturm wieder, als wir aus dem vom Denkmalgrat geschützten Hang heraufsteigen. Und er ist noch stärker geworden. Die Kletterei über den langgezogenen Gipfelgrat des Fornicola ist grenzwertig. Auf allen Vieren und dem Hosenboden kommt uns ein junger Mann entgegen gerutscht. Sichtlich mit den Nerven am Ende bittet er uns, seinen vorausgeeilten Kameraden mitzuteilen, dass er umkehrt und absteigen will. Wir überholen eine von zwei Bergführern geführte Gruppe. Die Bergführerin warnt uns davor, bei diesem Sturm über den Punta della Cappella zum eigentlichen Tagesziel, dem Refuge de Prati zu laufen. Zu ausgesetzt und gefährlich. Zunächst steigen wir auf der windgeschützten Ostseite über Geröll, später durch Macchia und Wald tief hinab und queren hinüber zum Col de Laparo. Während wir rasten, kommt neben einigen anderen Hikern auch die Bergführerin mit ihrer Gruppe. Sie wiederholt ihre Warnung und verweist auf die sichere Alternative, ab hier auf dem Mare a Mare nach Westen bis zur Chapelle de Saint Antoine abzusteigen und dort der Waldstrasse bis zum Col de Verde zu folgen. Angesichts des Wetters hält sich niemand für schlauer. Unten angekommen, empfinden wir die ersten Meter auf dem bequemen Untergrund als angenehm. Aber der Weg ist lang. Zwölf Kilometer Hatscherei, windgeschützt, aber eben auch in der Hitze lassen die Socken qualmen. Am Col erreichen wir wieder den GR 20 und das Relais San Pedro di Verdi. Die mächtigen Bäume hier biegen sich im Sturm und der Gardien gibt uns den Rat, unser Zelt soweit als möglich unten am Hang aufzubauen.
Tatsächlich wird es eine ruhige Nacht, die wir ein Viertelstündchen länger als gewöhnlich genießen. Als wir die paar Meter zum Pass hoch stiefeln, ist der Himmel blau und – kein Wind! Im kühlen Schatten eines schönen, flachen Waldweges laufen wir uns für den Tag ein. Als dieser urplötzlich endet, folgen wir auf Grund der sparsamen Markierung etwas unsicher einem steilen Trampelpfad. Oben erreichen wir einen herrlichen Wald mit meterdicken Lariciokiefern. Und die weiß-rote Markierung ist auch wieder da. Über den Col de Flasca hinunter zur Brücke über den Marmanobach, danach steil hinauf zum Plateau de Gialgone. Die gleichnamige Bergerie liegt in dem offenen Gelände etwas abseits vom Weg oben am Hang. Dieser verläuft jetzt nahezu gleich einer Höhenlinie am Hang und meistens im schattigen Wald. An lichten Stellen genießen wir den wunderschönen Ausblick bis zur Ostküste. Am Cassa-Bach tangieren wir die Straße, die sich hinauf zum Refuge de Capannelle zieht, gebaut um im Winter die Zufahrt zum dortigen Skigebiet zu ermöglichen. Wir sammeln nochmal unsere Kräfte, bevor wir die zweihundert anstrengenden Höhenmetern den Bachlauf aufwärts angehen. Oben ist es nicht mehr weit. Nach ein wenig Abwärtskletterei sitzen wir zufrieden unterm Sonnenschirm auf der Terrasse des Restaurants und schaufeln jeder eine ordentliche Portion korsischen Salat mit Käse, Schinken und geräucherter Wurst in uns hinein. Es ist früher Nachmittag, wir fühlen uns frisch und beschließen, die letzte Tagesetappe des GR 20 Süd bis nach Vizzavonna heute noch dranzuhängen. Wir müssen zunächst lang, steil und steinig durch den Wald hinunter zur Bergerie de Scarpadeccie absteigen. Ab hier zieht sich der Weg in die Länge. Noch eine Rast an der Crete de Cardo. Ein wunderschöner Platz mit herrlicher Aussicht und zwei friedlich weidenden Pferden. Von Westen drücken dunkle, tief hängende Wolken heran. Es sieht bedrohlich aus, aber es regnet nicht. Bald erreichen wir die Bergerie d’Alzeta, deren rot gestrichene Dachbalken aus dem Nebel leuchten. Noch einmal hinauf zum Bocca Palmente, dann folgt der sieben Kilometer lange, steile Abstieg, der vor allem unsere Fußsohlen strapaziert. Aber kurz nach neunzehn Uhr und rund siebenundzwanzig Kilometern schlagen wir unser Zelt auf dem kleinen Campinggelände neben dem Bahnhof von Vizzavonna auf. “How was your day?”, begrüßt uns der Kanadier aus Quebec. Er ist schon heute morgen um fünf Uhr am Col de Verde aufgebrochen. “Lazy.”, zwinkere ich ihm zu. “Oh yeah, the South is flat. If you want high mountains, you have to go to the North.”, zwinkert er zurück. Das haben wir vor, aber zunächst werden wir hier die Tour unterbrechen, um unser Basislager von Fautea in den Nordteil der Insel zu verlegen.

Über Bonifacio ins Asco-Tal

Am nächsten Vormittag rollen wir entspannt mit dem Zug durch die immer wieder spektakuläre Landschaft in einer knappen Stunde nach Corte. Nach Auskunft des Campingwartes gestern Abend kommt man von hier problemlos nach Aleria und weiter nach Porto Vecchio. Schnell erfahren wir, dass dem nicht so ist. Es gibt keinen Bus in diese Richtung. Wir versuchen, zu trampen. Eine gefühlte Ewigkeit stehen wir mit unseren Rucksäcken in der Hitze, bis uns ein junger Mann, nachdem er den halben Kleinwagen umgeräumt hat, damit wir reinpassen, etwa zehn Kilometer bis zur Brücke über den Tavignano mitnimmt. Leider muss er abbiegen. Letztes Jahr zu Ostern waren wir hier eine Etage tiefer auf dem gut eingeschenkten Wildwasser des Flusses flott unterwegs. Jetzt könnte man ihn fast trockenen Fußes überqueren. Wieder halten wir den Daumen raus. Es ist nicht viel Verkehr, meist sind die Autos voll. Was uns wirklich stinkt, ist, als uns ein weißer VW-Bulli mit deutschem Kennzeichen ignoriert. Machen einen auf “letzte Blumenkinder” und lassen Tramper wie uns stehen. Spießer, die sich für Alt-68er halten. Und wer hält wieder: Ein Pärchen, frisch verheiratet, er Korse, sie Portugiesin, mit einem kleinen Hund und einem kleinen Auto. Wir dürfen uns mit unseren Rucksäcken zwischen den Beinen auf den Rücksitz falten, bekommen ein paar Bonbons und ab geht die Fahrt bis nach Ghisonaccia, wo die beiden zum Baden ans Meer wollen. Am späten Nachmittag setzen wir die Fahrt mit dem von Bastia kommenden Linienbus fort. Eine Stunde später werden wir an der Rezeption vom Campingplatz Fautea freudig begrüßt. Wir erfrischen uns im Meer und sitzen dann auf unserem Thron hoch über der Bucht. Vor uns ein üppig gedeckter Tisch: Rotwein, Kastanienbier, Schinken, Käse, Baguette. Unten plätschern die Wellen auf den Strand und über uns ziehen langsam die Sterne auf …
Den Umzug nach Norden nutzen wir, um ein wenig mehr von Korsika kennenzulernen. Zunächst führt uns unser Weg nach Bonifacio an die Südspitze der Insel. Spektakulär schwebt die Stadt auf einem langgezogenen Kalkfelsen, der senkrecht ins Meer stürzt. An seiner Nordseite streckt sich ein schmaler, mehr als einen Kilometer langer Meeresarm ins Innere der Insel, an dessen Ende der derart geschützte kleine Hafen liegt. Wir schlendern oben durch die engen Gassen der Zitadelle und versuchen, uns das Leben im Mittelalter hier vorzustellen. Vom Ausblick oberhalb des Seefahrer-Friedhofs scheint Sardinien zum Greifen nah.
Wir folgen der Westküste nach Norden. Immer wieder entdecken wir malerische Buchten mit weißen Stränden, oft bewacht von einem alten Genuesenturm. Bei Ajaccio biegen wir rechts ab in die Berge. Über den Col de Vizzavonna, Corte und Ponte Leccia fahren wir ins Asco-Tal, wo wir fast ein bisschen heimkehren auf den Campingplatz E’Canicce. An der gleichen Stelle wie im vergangenen Jahr schlagen wir unser Basislager für den nördlichen Teil des GR 20 auf. Im Dörfchen Asco legen wir uns einen Vorrat an leckerem Bienenhonig zu und entspannen einen sonnigen Nachmittag beim Baden unter der alten Genuesenbrücke.

Wieder auf dem Trail – GR 20 Nord von Vizzavonna nach Haut Asco

Nach drei Tagen hat uns der GR 20 wieder. Am frühen Morgen sind wir mit dem Auto nach Vizzavonna gefahren und haben es oberhalb des Campingplatzes abgestellt. Unser Wohnwagen bleibt in E Canicce. Auf guten Wegen geht es zunächst eine Stunde durch Kiefernwald bis zu den Cascades de Anglais. Noch dürfen wir im Schatten der Bäume bleiben, aber ab hier wird der Pfad eng, steil und verblockt. Oft müssen wir die Hände zu Hilfe nehmen. Weiter oben geht die Flora in niedrigen Mischwald über, bis wir die Baumgrenze erreichen. Rechts stürzen die Flanken vom Gipfel des Monte d’Oro herunter. Vor uns liegt ein gewaltiges Hochtal. Mit dem Kopf im Nacken versuchen wir ohne Erfolg oben am zerklüfteten Kamm den Muratella-Pass zu erkennen. Wir klettern weiter. Es wird zäh. Sicher hat uns die Pause gut getan, aber offensichtlich müssen wir uns erst wieder einlaufen. Als wir uns dem Kamm zwischen Monte d’Oro und Punta Muratella an seiner tiefsten Stelle nähern, biegt der GR 20 nach links hinauf ab zur Schulter des Punta Muratella. Erst hier oben befindet sich der Übergang ins Nachbartal. Blick zurück: Rund tausend Höhenmeter tiefer liegt der Col de Vizzavonna. Am Gegenhang der Punta dell Oriente, von dessen östlicher Schulter der letzte Abstieg des GR 20 Süd nach Vizzavonna führt. Blick voraus: Wir überschauen nicht nur die komplette Etappe des morgigen Tages bis zum Refuge de Petra Piana, sogar den Aufstieg von dort zum Bocca Muzella, der erst übermorgen dran ist. Sechshundert Meter unter uns sehen wir bunte Tupfer auf der Zeltwiese des Refuge de l’Onda. Der steile Abstieg dahin wird trotz Trekkingstöcken eine Herausforderung für unsere Knie. Gegenverkehr an einer Engstelle und eine Zwangspause, die uns durchaus gelegen kommt. Es dauert gute zehn Minuten, bis sich eine Ziegenherde im Gänsemarsch an uns vorbei gedrängt hat. Ihre glitschigen Hinterlassenschaften erhöhen den Schwierigkeitsgrad des Abstiegs um eine Stufe. Unbeschadet erreichen wir das schön gelegene Refuge und genießen bald die warme Nachmittagssonne. Als sie hinter dem Bergkamm verschwindet, ziehen wir unsere Jacken über. Es wird deutlich kühler als im Süden.
Für den nächsten Tag wählen wir wieder die alpine Variante. Sie beginnt mit einem langen Anstieg. Nach einer Stunde rasten wir in der Morgensonne mit Blick auf den Monte d’Oro und die Abstiegsroute von gestern. Weiter oben wird der Pfad flacher und zieht nach links. Herrliche Ausblicke nehmen uns gefangen. An der Westküste sehen wir Ajaccio liegen. Plötzlich ein Fehltritt, Petra stürzt, kann sich im Fallen drehen, so dass sie kopfüber zwischen den Blöcken auf dem schützenden Rucksack landet. Nichts passiert zum Glück, aber allein kann sie sich aus der Misere nicht befreien. Wenig später endet der gemütliche Weg an einer Scharte und wir schauen einen felsigen Steilhang hinunter. Um die Hände frei zu haben, befestigen wir unsere Trekkingstöcke am Rucksack. Mit viel Vorsicht und gegenseitiger Hilfestellung klettern wir nach unten und hinüber zur Bocca a Meta. Die folgende Kletterei bringt uns hinauf zum höchsten Punkt der heutigen Tour, der Punta de Pinzi Corbini (2.021 m). Knapp hinter dem Gipfel weidet eine Herde Schafe im steilen Gelände. Wir suchen uns ein schönes Plätzchen und machen Mittagspause bei herausragender Rundumsicht. Tief unten im Tal erkennen wir die Bergeries de Gialgo, von der die weiß-rote Variante des GR 20 heraufzieht. Angenehm steigen wir über den breiten, Gras bewachsenen Bergrücken ab, bis wir in felsigen Passagen wieder Klettern müssen. Auch die Querung vom Bocca Manganello zum Refuge de Petra Piana bleibt alpin. Schon früh sind wir am Ziel, die giebelförmige Hütte thront luftig am Rand einer Hochebene. Neben den permanent stehenden Leihzelten haben erst wenige Hiker ihr Zelt aufgeschlagen. Trotzdem müssen wir in dem leicht hängenden Gelände eine Weile suchen, bis wir einen ebenen Platz gefunden haben. Es folgt ein entspannter Nachmittag mit Duschen, Kaffee trinken, Nickerchen machen. Wir haben Muße und beobachten, wie sich der Platz langsam füllt. Viele Wanderer verarzten ihre Füße. Aber wir sehen auch ernsthafte Blessuren, bis hin zu Platzwunden im Gesicht, ganz offensichtlich nach Stürzen. Am Abend gibt es Wolkenspiele drüben am Monte d’Oro, bis eine Nebelbank aus dem Tal heraufsteigt und alles Grau in Grau färbt.
Als wir am nächsten Morgen wie immer um sechs Uhr aufstehen, leuchtkäfern die Stirnlampen unserer Nachbarn um uns herum. Wunderschönes Morgenrot über dem Tyrrhenischen Meer, am klaren Himmel funkeln noch ein paar Sterne. Mit der aufgehenden Sonne steigen wir auf zur Bocca Muzzela (2.206 m). Auf halber Höhe wechselt der Pfad über eine Flanke nach Westen und wir schauen auf eine tief liegende Wolkendecke über dem Mittelmeer. Oben am Pass erwartet uns eine Waschküche. Das Restonica-Tal liegt unter dichtem Nebel, der uns kalt entgegen weht. Ab hier tasten wir uns bis zur Bocca a Soglia von Markierung zu Markierung nach unten. Dort werden wir Zeuge einer Auseinandersetzung zwischen Wind, Sonne und Wolken. Wie im Theater wird der Vorhang auf und zu gezogen. Wir erhaschen einen Blick hinauf zur Bocca alla Porte, mit 2.220 Metern der höchste Pass am GR 20. Der Weg dahin führt über steiles Felsgelände. Wir konzentrieren uns auf den Pfad, wo das Klettern zunehmend schwieriger wird. Die Trekkingstöcke sind wieder am Rucksack. Eine Stelle ist mit einer Kette gesichert. An einer anderen quetschen wir uns mit dem Rucksack geradeso durch ein Felsenloch senkrecht nach oben. Inzwischen gibt es nebelfreie und wunderschöne Ausblicke auf die Seen Lac de Melo und Lac de Capitello unten im Talkessel. Nach vier Stunden sind wir oben am Pass, finden ein windgeschütztes Plätzchen in der Sonne und genießen unsere Mittagspause mit herrlichen Tiefblicken in das obere Restonica-Tal. Einzig der Gipfel des 2.622 Meter hohen Monte Rotondo gegenüber bleibt bis auf ganz kurze Augenblicke in den Wolken verborgen. Durch die enge Scharte beginnen wir den sehr steilen Abstieg auf rutschigem Geröll. Wir müssen höllisch aufpassen. Die weiß-roten Markierungen dienen offensichtlich nur dazu, die Richtung zu halten. So etwas wie ein Weg beginnt erst viel weiter unten. Als wir nach insgesamt 6 h 30′ auf der hölzernen Terrasse des Refuge de Manganu unseren Kaffee schlürfen, hängen tiefschwarze Wolken in unserer Abstiegsroute. Unser Abendessen für die Tour ist Standard: Zweihundert Gramm Reis, von Petra zu Hause portioniert und eingeschweißt, werden auf unserem kleinen Gaskocher erhitzt, dann zweihundert Gramm Cathay darunter gemengt. Fertig. Wir essen zusammen aus einem Topf. Vor dem Schlafengehen noch ein Berghaferl heißen Tee.
Auch das Frühstück ist schon vorportioniert. Für jeden hundert Gramm mit Trockenmilch vermischtes Müsli werden mit heißem Wasser übergossen und geben uns die Energie für den Start in den Tag. Für unterwegs hat jeder zwei 1,5-Liter-Flaschen Wasser am Rucksack, sowie Mandelriegel und Studentenfutter im Deckelfach. Mehr denn je notwendig für die lange Etappe, die heute vor uns liegt. Vom Refuge de Manganu steigen wir etwas holprig hinab auf eine schöne, weite Ebene, auf der verstreut Vieh weidet. Im Gegenanstieg passieren wir die urige Bergerie de Vaccaghia und tauchen ein in einen malerischen Buchenwald. Ab hier folgt der GR 20 dem jungen Tavignano. Hinter dem Wald etwas steiler über eine felsige Stufe hinauf auf eine leicht ansteigende, grüne und sumpfige Ebene zum Ursprung des Flusses, den Lac de Nino. Der See funkelt in der Morgensonne. Klar und deutlich liegt der Weg vor uns. Entspannt und fasziniert von der Aussicht folgen wir ihm vom Nordufer des Lac de Nino immer weiter, bis wir merken, dass wir uns bei bester Fernsicht verlaufen haben und auf der Bocca a Stazzona stehen. Wir müssen über uns selbst lachen und bedauern den Umweg in Anbetracht der Aussicht keineswegs. Unter uns ein dicht bewaldetes, weites Tal, das von Albertacce zum Col de Vergio heraufzieht. Auf der anderen Talseite steigt die Grande Barriere mit den höchsten Bergen Korsikas empor. Wir erkennen die 2.525 Meter hohe Paglia Orba, das Matterhorn Korsikas. Links daneben die Capu Tafunatu. Selbst auf diese Entfernung sehen wir das Blau des Himmels durch das Loch in deren Fels. Da wollen wir heute noch hin. Also wieder hinunter Richtung See und dann rechts hinauf über die Bocca a Reta und bei ständig herrlichem Rundblick zur kleinen Kapelle am Bocca San Pedru. Dort folgt ein steiler Abstieg im Wald, bis der GR 20 scharf nach links abbiegt und in gleichbleibender Höhe am Hang hinüber zum Castello di Vergio verläuft, das wir nach einem kurzen Schlussanstieg erreichen. Wie in einem Wildpark werden wir und andere Wanderer neugierig aus vorbeifahrenden Autos bestaunt. Im Restaurant stärken wir uns mit deftigen, korsischen Schinken-Käse-Sandwiches. Vor uns liegt noch eine große Herausforderung. Die Strecke hinüber zur Bergerie de Radule kennen wir von einer Wanderung vergangenes Jahr. Damals waren wir durch knietiefen Frühjahrsschnee in umgekehrter Richtung unterwegs. Jetzt ist das Fortkommen deutlich einfacher. Hinter der Bergerie beginnt zum Ende eines langen Tages der sechshundert Höhenmeter lange Aufstieg zum Refuge Ciuttulu di i Mori. Auf einer Brücke überqueren wir ein steiles, kaum Wasser führendes Bächlein. Es sind die zarten Anfänge dessen, was einmal zum längsten Fluss Korsikas wird. Weiter unten und insbesondere im Frühjahr hat der Golo Wildwasser aller Schwierigkeitsgrade zu bieten. Nix Kanu! Wir müssen laufen, straff bergauf, bis wir ein langes Hochtal erreichen, in dem es etwas flacher wird und an dessen Ende Paglia Orba und Capu Tafunatu aufragen. Winzig klein erscheint die höchst gelegene Hütte am GR 20 vor deren felsigen Aufschwüngen. Der sehr steile Schlussanstieg fordert uns nach dreiundzwanzig Kilometern noch mal alles ab. Oben ist es kalt und windig. Das Felsenloch der Capu Tafunatu liegt direkt über uns. Wie aus einem Schornstein quellen Wolken daraus hervor, die der Wind auf der anderen Seite hindurchdrückt. Die kalte Dusche in der zugigen Kabine wird die letzte Heldentat des Tages.
Die Belohnung kommt mit dem Sonnenaufgang am nächsten Morgen. Unter einem wolkenlosen Himmel schauen wir durch die kalte, klare Luft weit nach Süden über die Bergwelt, durch die wir in den letzten Tagen gelaufen und geklettert sind. Noch ist die Sonne für uns verdeckt, aber in der Ferne leuchten die ersten Gipfel rot auf. Wir beschließen, heute zwei Tagesetappen zusammen zu fassen und bis Haut Asco durchzulaufen. Noch im Schatten queren wir hinüber zur Bocca di Foggiale. Hier erreicht uns die Morgensonne. Hinter uns blinkt blauer Himmel durch das Felsenloch. Tief unter uns schimmert der Stausee von Calacuccia im Gegenlicht. Es folgt ein langer, unwegsamer Abstieg. Der Weg bessert sich erst, als wir den Laricio-Kiefernwald erreichen. Tiefster Punkt: Die Überquerung des Paglia-Orba-Bachs (1.370 m). Bis zur Bergerie de Vallone können wir dann im Schatten der Bäume aufsteigen. Nach einer Rast auf der Holzterrasse passieren wir die Baumgrenze und es wird steiler und steiler. Das Ziel der ersten Etappe ist das Refuge de Thigiettu mitten im Hang. Ich fülle dort unsere Wasserflaschen auf, Petra klettert gleich weiter. Sehr direkt kraxeln wir mit der Sonne im Rücken nach oben. Eine Trinkpause reduziert das Gewicht unserer Wasservorräte deutlich. Gegen dreizehn Uhr stehen wir an der Bocca Minuta (2.218 m) und schauen fasziniert in die Tiefe. Drüben liegt die Bocca Tumasginesca (2.183 m), dazwischen tut sich ein tiefer Schlund auf – der Cirque de la Solitude. Eigentlich wollten wir rasten, aber dunkle Wolken sind im Anmarsch, wir beginnen gleich mit dem Abstieg. Gut zwei Stunden brauchen wir, um steil, teilweise ausgesetzt kletternd und uns an Ketten hinab lassend, hinunter zu steigen und auf der anderen Seite noch direkter wieder nach oben klettern. Eine unglaublich wilde und schöne Landschaft. Das Wetter macht es noch dramatischer. Im Nieselregen werden die Felsplatten glatt und rutschig, dann scheint wieder die Sonne, in dichtem Nebel sind wir froh, die nächste Markierung zu erkennen, dann reißt der Wind alles wieder auf. Oben am Pass ein kurzer Regenschauer. Der lange Abstieg nach Haut Asco wird zäh. Petra hat Probleme mit dem Knie. Nach den felsigen Passagen folgen flachere Almen, bis es durch einen Wald mit eindrucksvollen Laricio-Kiefern noch einmal steil hinab geht. Kurz nach siebzehn Uhr sind war am Parkplatz. Ich spreche gleich ein junges Pärchen vor seinem Kleinwagen an. Natürlich nehmen sie uns mit. Die beiden sind wahnsinnig nett, kommen aus Paris und haben gerade eine Tageswanderung beendet. Sechsundzwanzig Kilometer weiter unten setzen sie uns direkt vor unserem Campingplatz E’Canicce ab. Besser konnte es nicht laufen.

Endspurt nach Calenzana

Zwei Tage Unterbrechung, die wir zur Erholung nutzen. Am ersten Tag trampen wir zum Bahnhof in Ponte Leccia und fahren nach Vizzavonna, um unser Auto zu holen. Auf der Rückfahrt frühstücken wir ausgiebig in einem Straßenrestaurant in Vivario. Als wir die Frage der Wirtin, ob wir Wasser haben wollen, bejahen, nimmt sie die Karaffe vom Tisch und füllt sie am nahen Dorfbrunnen auf. Später bummeln wir in Corte durch die Altstadt und stärken uns mit zwei King-Size-Eisbechern. Den zweiten Tag verbringen wir nach einem kurzen Einkauf im Super-U in E’Canicce. Nach einem langen Brunch und einem faulen Nachmittag am Pool werden wir abends nochmal aktiv und malen uns ein Pappschild mit der Aufschrift “GR 20 ASCO”, das uns das Trampen wieder hinauf in die Berge erleichtern soll.
Um sieben Uhr am nächsten Morgen postieren wir uns damit an der Straße und müssen doch zwei Stunden warten, bis auf der spärlich befahrenen Straße ein Wagen hält. Wieder ein kleines Auto, welches erst halb umgeräumt werden muss, damit wir reinpassen. Diesmal ist es ein junges deutsches Pärchen, das oben eine Wanderung unternehmen will. Eine dreiviertel Stunde später brechen wir vom Parkplatz Haut Asco auf. Es ist Bilderbuchwetter. Gleich sehr steil und unwegsam steigen wir durch Lariciokiefernwald auf und haben dabei wunderschöne Ausblicke ins Asco-Tal. Als wir die Baumgrenze erreichen, baut sich vor uns eine regelrechte Wand auf. Ich sage noch zu Petra: “Schau mal, da oben klettern welche.”, im Glauben, da sind Felskletterer unterwegs. Da hatte ich noch nicht realisiert, dass der Trail dort hinaufführt. Also die Trekkingstöcke wieder an die Rucksäcke und mit vollem Körpereinsatz nach oben. Nach insgesamt zwei Stunden stehen wir an der Bocca di Stagnu (2.010 m) und haben einen Traumblick auf die höchsten Berge Korsikas mit dem 2.706 m hohen Monte Cinto. Durch eine Senke queren wir hinüber zur engen Scharte der Bocca di a Muvrella (2.000 m), wo der sehr steile Abstieg in die Schlucht des Spasimata-Baches beginnt. Nach weiteren zwei Stunden rücken die Felswände eng zusammen und ein Teil des Abstieges ist mit Ketten gesichert. Sowohl der Blick zurück hinauf als auch nach unten ist toll. Endlich erreichen wir die Hängebrücke über den kaum Wasser führenden Bach. Auf der anderen Seite noch ein kurzer, steiler Anstieg durch den Wald, dann sind wir im Refuge de Carrozu (1.392 m), das malerisch in einem Hochtal liegt. Aber der Platz ist begrenzt hier für die Hiker, die nicht nur aus beiden Richtungen vom GR 20 kommen, sondern auch für Kurztouren vom Forsthaus Bonifatu heraufsteigen. Mit Mühe finden wir eine Fläche für unsere Behausung.
Als wir am nächsten Morgen den Reißverschluss aufziehen, hat sich hinter uns noch ein Zelt gequetscht und vor uns liegt ein Spätankömmling auf seiner Matte im Freien. Bei unserem Aufbruch hängt der Mond über den felsigen Zacken der Crete de Petrinaccia. Nach fünfundvierzig Minuten haben wir die Baumgrenze erreicht. Das ganze Tal liegt noch im Schatten, während an den Bergspitzen die Morgensonne glänzt. Rast am Bocca di l’Innominata (1.912 m). Die ersten tollen Ausblicke. Das Mittelmeer im Nordwesten scheint schon richtig nah. Unter uns gähnt ein tiefer Talkessel. Wir umgehen ihn in einem weiten Rechtsbogen mit viel abwechslungsreicher, teils luftiger Auf-und-Ab-Kletterei. Dabei überholen wir eine Gruppe älterer Franzosen (Hut ab vor deren Leistung!), die in den kniffligen Stellen sehr langsam und vorsichtig vorwärts kommen. Bald nach dem Col de Avartoli folgt der Aufstieg an den Hängen des Capu Ladroncellu. Unten im Talkessel entdecken wir ein weidendes Mufflon mit mächtigem Gehörn. Bald darauf steigen und klettern wir in der Sonne und queren schließlich angenehm flach hinüber zum höchsten Punkt der heutigen Etappe (2.081 m). Der Traumblick von dort lässt uns lange verweilen. Hinter uns im Süden der wilde Felsenkessel des Cirque de Bonifatu und die versammelte Bergwelt Korsikas, vor uns breitet sich das Meer aus. Ganz deutlich sehen wir die Segelschiffe in der Bucht von Calvi und die mächtige Zitadelle. Dort wollen wir morgen sein. Einige Schweißtropfen wird es noch brauchen. Los geht es gleich mit einem langen, anstrengenden Abstieg über große Blöcke und Geröll. Vor dem letzten, steilen Anstieg noch eine Verschnaufpause im Birkenwald am Mandriaccia-Bach. Oben ist es nicht mehr weit zum Refuge de l’Ortu di u Piobbu (1.507 m). Eine schöne Hütte, offenes Gelände, viel Platz auf dem nach Westen abfallenden Hang. Wir genießen den Nachmittag in der Sonne und knüpfen einige Kontakte. Die junge Hüttenwirtin spricht perfektes Deutsch. Neben uns zeltet ein Schweizer Pärchen, sie sind von Bonifatu herauf gewandert. “I like your tent”, so kommt Patricia aus Washington D.C. mit uns ins Gespräch. Am Abend beobachten wir aus dem Zelt den Sonnenuntergang über dem Meer. Da unten haben sich einige Wolkenberge aufgetürmt.
In der Nacht prasseln zum ersten Mal auf der gesamten Tour Regentropfen auf das Zelt. Wir stehen um fünf Uhr auf, eine Stunde früher als gewöhnlich. Wir wollen sicher gehen, am Nachmittag in Calvi den Zug nach Ponte Leccia zu erreichen. Der Himmel ist von dichten Wolken bedeckt, im Norden wetterleuchtet es lautlos und unheimlich. Kein Regen! Eine gute Stunde später machen wir uns im Schein unserer Stirnlampen auf die letzte Etappe. Nach einem kurzen Anstieg müssen wir abwärts klettern. Zum Glück sind die Markierungen hier dicht gesetzt. Es folgt ein langer Anstieg schräg den Gegenhang hinauf. Frische, kühle Luft, es dämmert und nach einer halben Stunde können wir die Lampen wegpacken. Bald stehen wir am Beginn der zweiten Steilstufe und haben wieder einen Blick auf Calvi und die beleuchtete Uferpromenade. Dort stellen sie bestimmt bald die Stühle raus, auf denen wir nachher Eis schlecken wollen. Jetzt aber nochmal volle Konzentration. Es geht sehr steil über Felsen und enge, rutschige Serpentinen hinunter. Lediglich eine Stelle ist mit Ketten gesichert. Unten zieht der hier gute Pfad in einem wunderschönen Lariciokiefernwald nochmal bergauf zur Bocca a u Saltu (1.250 m). Ab jetzt geht es nur noch bergab. Tausend Meter tiefer sehen wir Calenzana liegen. Die ersten Hiker im Gegenverkehr. Sie haben noch alles vor sich. Und immer wieder die Frage, wo wir gestartet sind und wie viele Tage wir gebraucht haben. Dreizehn sind es mit heute, statt der ursprünglich geplanten fünfzehn. Man gratuliert uns, eine Gruppe rastender Mädchen klatscht Beifall. Ein bisschen ist es wie Tour de France. Am späten Vormittag sind wir in Calenzana. Der GR 20 ist geschafft! Entspannt schlendern wir durch die engen Gassen hinunter zur Ortsmitte. Schön hier. Ein Taxi bringt uns nach Calvi. Wenig später sitzen wir unter den Sonnenschirmen des “Ile De Beaute Café” an der Hafenpromenade, genießen zwei fulminante Eisbecher, den Blick auf die Zitadelle und über die Bucht hinüber zum Monte Cinto und das Gefühl, es geschafft zu haben.

Epilog

Im Norden Korsikas streckt sich eine schmale Landzunge wie ein Finger ins Meer, das Cape Corse. Wir nutzen die gewonnene Zeit, um zum Abschied diesen uns noch unbekannten Teil der Insel kennenzulernen. Von E Canicce fahren wir über den Bocca di Vezzu zum Golf von Saint Florent. Hinter dem Örtchen beginnt das Cape Corse. Wir folgen der schmalen Straße im Westen, die mitten in der Steilküste hängt, durch malerische Ortschaften führt und spektakuläre Ausblicke bietet. Auf dem Campingplatz in Macinaggio nehmen wir Quartier und genießen die verbleibenden Tage. Im Hafen schlürfen wir zum Sonnenuntergang leckeren Aperitif namens Cape Corse, wir baden im Mittelmeer am Strand Plage de Tamarone, machen einen Ausflug nach Tollare und Barcaggio zum nördlichsten Punkt Korsikas. Von dort unternehmen wir eine letzte kleine Wanderung zum Tour d’Agnello, einen gut erhaltenen Genuesenturm. Herrlicher Rundblick. Etwas wehmütig schauen wir nach Süden. Dort liegt Bastia, dort wartet die Fähre.