78° Nord – Den Sommer kriegen wir schon irgendwie rum

Die Reise beginnt mit einer netten Anekdote. Als wir nach der Landung in Oslo unser Gepäck gleich für den Weiterflug am nächsten Tag einchecken, stutzt der Mitarbeiter am Schalter beim Blick auf unsere Papiere: “Greiner-Petter! It’s a famous name. Is your name Simone?”, wendet er sich an Petra. “No, it’s my sister in law.”, antwortet sie. Die Biathlonkarriere von Simone liegt nun schon einige Jahre zurück, aber die Norweger sind halt ein sportbegeistertes Volk und da bleiben die erfolgreichen Namen in Erinnerung.
Hier treffen auch nach und nach die uns noch unbekannten Mitglieder unserer Gruppe ein. Individuelle Reisen nach Spitzbergen sind unglaublich aufwendig und in dem Stil, wie wir sie durchführen möchten, nahezu unmöglich. Als der Newsletter mit dem Angebot “Arktische Skitouren vom Boot auf Spitzbergen” herein flatterte, war die Entscheidung für die Teilnahme, nach meinen guten Erfahrungen mit den Profis von Alpine Welten auf der Haute Route vor zwei Jahren, Sekundensache. Jetzt sind wir gespannt auf unsere Mitstreiter und können vorab sagen, wir wurden nicht enttäuscht. Wahrscheinlich trifft die Regel zu: “Je extremer die Reise, umso geringer die Gefahr, dass die Mischung nicht passt.” Drei Schweizer, Martina, Pia und Andre und drei Süddeutsche, Conni, Dieter und Max, sind es, alle erfahren, alle gute Skifahrer und alle Teamplayer. Den Rucksack der Verantwortung trägt Hansi Stöckl höchstselbst, Bergführer aus Schönau und einer der Geschäftsführer von Alpine Welten. Was kann da noch schief gehen? Jedenfalls nichts, was in unser aller Macht steht. Die höheren Mächte sind in diesem Fall die Fluggesellschaften, die dafür sorgen, dass Hansi und Andre zunächst ohne Skigepäck dastehen.
Weiterflug am nächsten Morgen nach Longyearbyen. Dort quartieren wir uns für eine Nacht in der Funken Lodge ein. Während Hansi alle Räder in Bewegung setzt, um die Skifrage zu lösen, erforschen wir den kleinen Ort. Er trägt den Namen des amerikanischen Geschäftsmannes John Longyear, der die Stadt 1906 als Bergbausiedlung auf Grund der vorhandenen Kohlevorkommen gründete. Eher schmucklos, aber zweckmäßig präsentiert sich die Ansammlung der genormten Kleinhäuser im Adventfjorden. Im Ort liegt kaum noch Schnee, während die umliegenden Berge weiß glänzen. Sichtbares Indiz, dass in dieser Welt andere Gewohnheiten gelten, sind die zahllosen Schneemobile, die im ganzen Stadtgebiet geparkt sind. Longyearbyen liegt auf dem 78. Breitengrad und ist eine der nördlichsten Städte der Erde. Bis zum Nordpol sind es nur noch 1.316 km! Aber die Infrastruktur bietet alles, was es braucht, bis zu Schwimmbad und Kino. Wir besuchen das sehenswerte Svalbard Museum und die Kirche, in der die vordere Hälfte des unterteilten Hauptraums offensichtlich auch als gemütlicher Kommunikationstreffpunkt dient.

Zumindest das Skigepäck von Hansi kommt am Nachmittag des nächsten Tages an. Für Andre gelingt es ihm, Skier mit Klapprahmenbindung vor Ort zu organisieren. So können wir noch am späten Nachmittag unsere erste Skitour fast direkt von der Funken Lodge starten. Die Tageszeit spielt eh keine Rolle, die Polarsonne umkreist den Horizont, ohne unterzugehen. Doch da lauert schon das nächste Problem: Trotz aller Versuche passen Andres Schuhe nicht in die Bindung. Und jetzt erweist sich Dieter als ganz großer Kamerad! Seine Schuhe passen in die Bindung. Andre probiert die Pin-Bindung von Dieters Dynafit Denali – passt. Ohne großes Aufhebens zu machen, wird getauscht und das für die gesamte Dauer der Reise!
Unsere Eingehtour führt uns auf den Trollsteinen südlich von Longyearbyen mit schönen Aussichten zurück auf den Fjord bis uns im steilen Gipfelhang die Wolken einhüllen. Im unteren Teil kommt uns eine norwegische Familie entgegen. Wahnsinn, hier spielen die Kinder noch draußen! Wir steigen bis zu dem steinigen Gipfelfelsen, der dem Berg offensichtlich seinen Namen gibt. Zurück geht es auf dem schmalen, eisigen Kamm und dann hinein in den Steilhang, dessen Bruchharsch noch kein Fahrvergnügen aufkommen lässt. Das folgt wenig später bei guter Sicht und fast Firn in der nächsten Steilpassage. Voller Euphorie gleiten wir nach unten und checken am frühen Abend auf der Duen III, unserem schwimmenden Basislager für die nächste Woche ein: Dreiundzwanzig Meter lang, vier Doppelkabinen mit Dusche und WC, ein gemütlicher Aufenthaltsraum und als jüngste Errungenschaft ein mit Holz beheizbarer Hot Tub auf dem Achterdeck. Da hatten wir es hier und da schon deutlich rustikaler. Unterhaltsam stellt Oyvind, unser Skipper und schon rein optisch ein Seebär, sich, seine Crew, bestehend aus Emilia und Ole, und die Regeln auf dem Segelschiff vor. Kostprobe: Als Hausschuhe stehen auf dem Schiff Crocs zur Verfügung. “The yellow crocs are the captain’s. Whoever takes them goes over the plank.”
Später weicht die Heiterkeit der Konzentration auf die inneren Körperfunktionen. Das Schaukeln und Rollen des Schiffes während der stundenlangen Überfahrt auf dem Isfjorden finden wir am Anfang lustig und nicht schlimm. Irgendwann schleicht sich ein flaues Gefühl in die Magengegend und im unregelmäßigen Takt der Wellen scheint dessen Inhalt langsam immer höher zu schwappen. Lang ausgestreckt meditieren wir in der Koje, auf dass der kritische Punkt nicht überschritten wird. Bevor es zum Äußersten kommt, gelangen wir in die geschützten Gewässer der Trygghamna Bucht. Hier steht die nächste Skitour auf den Protektorfjellet an. In zwei Gängen bringt uns Ole im motorisierten Schlauchboot an Land. Wir können direkt anschnallen und den Aufstieg beginnen. Nach kurzer Zeit gleiten wir auf dem gleichnamigen Gletscher. Breit, unverspurt, harter Untergrund – unbeschwert laufen wir nebeneinander und genießen den frischen Zauber der Arktis. Als der niederländische Seefahrer Willem Barents 1596 die Insel entdeckte, benannte er sie nach den zahllos in den Himmel ragenden Gipfeln Spitzbergen. Besser lässt sich die Landschaft mit einem Wort kaum beschreiben. Ständig schweift der Blick und entdeckt unzählige Einladungen in Form von steilen, unberührten Hängen. Scharfe Grate streben aufeinander zu, trennen das Weiß vom Blau des Himmels. Dort, wo sie sich treffen, geht es nicht mehr höher, liegt die Verlockung der unbekannten Aussicht. Ungewohnt auch das Großkaliber-Gewehr, dass Hansi auf dem Rücken trägt. Zur Gruppenausstattung gehören auch Signalpistole und Satellitentelefon. Alles notwendige Vorsichtsmassnahmen auf einer Insel, auf der mehr Eisbären leben als Menschen.
Wir biegen aus dem Haupttal links ab. Hier steilt der Gletscher ordentlich auf und ein relativ frischer, breiter Lawinenstrich zieht den Hang herunter. Wir reihen uns auf in Gänsemarschformation mit gebührenden Sicherheitsabständen. Zwei-, drei Mal gräbt Hansi ein Schneeprofil, bevor es weitergeht. Über uns eine Scharte, die wir in Spitzkehren anpeilen, der Kamm rechts und links davon ist zum Teil stark überwechtet. Oben trotz teilweiser Bewölkung ein toller Blick auf den Isfjorden. Von dieser Seite untersucht Hansi den weiteren Aufstieg zum nicht weit entfernten Gipfel. Eine lange Querung im vereisten Steilgelände mit felsigen Abbrüchen darunter erweist sich als nicht sicher genug. Die Scharte bleibt der höchste Punkt. Die Abfahrt im tiefen und recht schweren Schnee erfordert Kraft und saubere Technik. Weiter unten halten wir uns mehr rechts als im Aufstieg, treffen auf steilere Hänge und Firn. Langes Ausgleiten zum Strand, immer das Meer vor Augen. Das Wassertaxi ist schon per Funk bestellt, die Crew empfängt uns mit einer warmen Mahlzeit.

In zwei Etappen schaukeln wir hinüber zum lang gestreckten Prins Karls Foreland. Die Nacht dazwischen verbringen wir im ruhigen Wasser in Küstennähe. Immerhin, so langsam scheint unser Hirn die widersprüchlichen Sinneseindrücke auf einer Seefahrt besser einordnen zu können. Kein Versuch des Mageninhalts, den verkehrten Ausgang zu nehmen. Schließlich ankern wir vor der felsigen Südflanke des Murdochtoppen und setzen im Schlauchboot hinüber an den flachen Strand. Ziel der heutigen Skitour ist der Gipfel des Neukpiggen, anschließend die Überschreitung des nördlich davon gelegenen Passes auf den Mittleren Geikie-Gletscher und die Abfahrt hinunter an die Küste. Gestartet bei guten Sichtverhältnissen, stecken wir nach gut zwei Dritteln Aufstieg fast im Whiteout. Hansi lässt sich davon nicht beirren. Mit Gespür und GPS finden wir den steilen, harten Gipfelhang und steigen in Spitzkehren zum Gipfel, der nicht viel Platz bietet. Aussicht gleich Null. Ein starker Südwestwind treibt ständig Wolkennachschub von der Grönlandsee herüber. Aus Sicherheitsgründen verzichten wir auf die unbekannte Abfahrt und schwingen, zunächst vorsichtig, auf der Aufstiegsroute hinunter. Je tiefer wir kommen, desto besser die Sicht. Die Schneebedingungen sind top. Bald können wir uns richtig austoben.
Am Strand angekommen, müssen wir uns die Überfahrt zur Duen III erst noch verdienen. Zwar hat uns Alpine Welten unter anderem mit der Aussicht auf die Apresskiparty im heißen Hot Tub hierher gelockt. Nicht erwähnt wurde, dass wir das Holz dafür selbst besorgen müssen. Nun haben wir bisher noch keinen einzigen Baum gesehen, aber an den Ufern liegen zum Teil beachtliche Mengen an Schwemmholz, woher auch immer die Stämme angetrieben wurden. Niemand möchte hier ausgesetzt werden. Die Überlebenschancen sind angesichts der kargen Landschaft und der Gesellschaft hungriger Eisbären eher gering. Also wird fleißig Holz gesammelt und per Schlauchboot auf das Schiffsdeck transportiert.
Am Nachmittag schippern wir die flache Küste der Halbinsel Poolepynten einige Kilometer südwärts. Hier ist wieder Landgang, diesmal allerdings im Sightseeing-Modus. An der markanten Westspitze der Halbinsel befindet sich eine Walross-Kolonie. Bis auf dreißig Meter nähern wir uns den gewaltigen Tieren, die sich durch unsere Anwesenheit offensichtlich nicht gestört fühlen. Später queren wir den Fortlandsundet und ankern zur Nachtruhe in den ruhigen Gewässern des St.Jonsfjorden.
Obwohl die Sonne im Polarsommer eigentlich den Auftrag der Dauerpräsenz hat, versteckt sie sich am nächsten Morgen hinter einer tristen, grauen Wolkendecke, aus der es auch noch regnet. Für den Nachmittag verspricht der Wetterbericht Besserung. Müßiggang an Bord ist allerdings Fehlanzeige. Mit Säge und Axt rücken wir vereint dem Schwemmholz an den Kragen. Heute Abend wird angebadet. Der Holzvorrat dürfte noch für unsere Nachfolger reichen. Um die Mittagszeit legt ein flott motorisiertes Schlauchboot an. Nach dem internationalen Spitzbergenvertrag von 1920 wird die Inselgruppe von Norwegen verwaltet. Dessen oberster Repräsentant ist der Sysselmannen. Für jegliche organisierte Unternehmungen auf Spitzbergen wird ein entsprechendes Permit dieses Gouverneurs benötigt. Unser Besuch sind zwei seiner Beamtinnen, die die Einhaltung der Vorschriften durchaus auch an den abgelegensten Orten kontrollieren. Das Ganze allerdings in eher familiärer Atmosphäre bei einer Tasse Kaffee auf der Brücke.
Am späten Nachmittag ist das Wetter nicht wirklich besser. Wir pfeifen drauf und starten unsere Skitour auf den Holmeslettinden, einen formschönen, pyramidenähnlichen Berg. Gute anderthalb Kilometer schlurfen wir vom Strand an den Beginn des Gletschers, immer auf der Suche nach einer halbwegs festen Schneeunterlage in der von Schmelzwasserrinnen durchzogenen Ebene. Die Skier nehmen dabei das eine oder andere unfreiwillige Bad. Das rächt sich später, als meine Steigfelle zu stollen beginnen. Zwischendurch scheint es fast einmal aufzuklaren. Sogar die Sonne können wir durch einen dünneren Wolkenschleier kurz erahnen. Vom Gletscher steigen wir einen Steilhang in Spitzkehren bis auf einen breiten Sattel, wo wir kurz rasten. Da ist der Gipfel noch in Sicht. Während des Aufstieges auf dem schmaler werdenden Grat zieht es wieder zu. Wir steigen, bis es nicht mehr höher geht. Das muss dann auch der Gipfel sein. Hansi funkt Oyvind an. Von der See gesehen, scheinen sich die Wolken langsam zu heben. Trotzdem wird die Abfahrt vom Gipfel zunächst zum vorsichtigen Blindflug, bei dem wir immer gegenseitig in Sichtweite bleiben. Ab unserem Rastplatz wird die Sicht besser. Wir halten uns rechts, wo uns ein breiter Steilhang erwartet. Juhu, hier kann jeder sein persönliches Autogramm reinkurven. Erst nach 21 Uhr sind wir wieder auf dem Schiff. Dampf steigt am Achterdeck auf. Da war doch noch was … Und so klingt der Tag standesgemäß im Hot Tub aus.
Ohne große Erwartungen schauen wir am nächsten Morgen durch das kleine Bullauge unserer Kabine. Im begrenzten Sichtwinkel funkeln Sonnenstrahlen auf der Wasseroberfläche. Ein Traumtag wartet auf uns! Genau gegenüber von unserer gestrigen Tour legen wir am Nordufer des St. Jonsfjorden an. Zwei äsende Rentiere und ein streunender Polarfuchs blicken neugierig herüber, als das Gummiboot auf den Kies knirscht. Die Gipfel und Hänge des Lowzowfjella sehen vielversprechend aus. Durch das tief eingeschnittene Felsentor eines Schnee bedeckten Gletscherbaches verlassen wir den schmalen Strand, halten uns rechts ein zunehmend steiler werdendes Tal hinauf. Zweihundert steile Höhenmeter bringen uns in Spitzkehren auf den Kamm, auf dem es weiter nach oben zum Gipfel geht. Die Aussicht dort ist überwältigend schön. Wir genießen eine Weile bei Sonne und Windstille und beschließen dann, von hier dreihundertfünfzig Höhenmeter direkt neben unserer Aufstiegsroute abzufahren, bevor es weitergeht. Der ca. 35° steile, unberührte Hang sieht einfach zu einladend aus. Freeride vom Feinsten! Erneuter Aufstieg zum Gipfel. Wir lassen die Felle auf den Skiern und überschreiten ihn auf dem teilweise überwechteten, etwa ein Kilometer langen Kamm zum nächsten Gipfel. Hier folgt der nächste Knaller. Direkt unter uns liegt wieder so ein geiler Hang. Wir lassen uns nicht lange bitten, gleiten unten lang aus und sammeln uns im weiten, oberen Becken des Ankerbreen. Hansi hat schon das nächste Highlight im Visier. Nordöstlich wird der Gletscher von einer mehrgipfligen Bergkette begrenzt. Den höchsten davon peilen wir an. Um den Hang für die Abfahrt auch ja zu schonen, führt uns Hansi in kurzen Spitzkehren den steilen Kamm auf der linken Seite hinauf. Oben stockt uns fast der Atem. Von dem winzigen, exponierten Gipfel schauen wir hinunter auf den gewaltigen Dahlbreen-Gletscher und die gleichnamige Bucht. Es fällt schwer, sich von dem Anblick loszureißen. Andre bringt es später etwas drastisch und mit Augenzwinkern auf den Punkt: “Das ist ein schöner Platz zum Sterben!” Doch da wartet ja noch der unberührte Steilhang, der jetzt ordentlich durchgepflügt wird. Die Euphorie nimmt kein Ende. Unten schwingen wir auf bestem Firn bis fast an das Meer, nur auf den letzten Metern suchen und finden wir zusammenhängende Schneefelder, um die Skier erst am Strand abzuschnallen. Auch nach dieser Traumtour bleibt das Niveau extrem hoch. Oyvind steuert die Duen III in die Dahlbrebukta und ankert direkt vor dem Gletscher. Während wir im Hot Tub das Ambiente genießen, brechen immer wieder kleine und große Brocken aus der mächtigen Gletscherzunge und treiben an uns vorbei. Über dem Wasser liegt ein ganz feines Knistern. Ole erklärt mir, dass das die im Gletschereis eingeschlossene Luft ist, die jetzt beim Schmelzen entweicht. Dieter und Andre lassen es sich nicht nehmen, ein Bad zwischen den Schollen zu nehmen. Zur Mitternachtssonne gibt es aus Dieters Vorrat schließlich schwäbischen Whisky mit Gletschereis, das wohl Tausende Jahre alt sein dürfte.

Kurs nordnordwest. Bei turbulentem Seegang queren wir den Forlandsundet. Wir halten uns unter Deck auf, als Hansi an die Kabinentür klopft. Wegen hohem Seegang war das Anlegen an der geplanten Stelle im Norden des Prins Karls Forland nicht möglich. Inzwischen hat Oyvind auf Südkurs gedreht und steuert die Bucht Selvågen an, wo es hoffentlich ruhiger zugeht. Trotzdem sollen wir uns auf eine nasse Landung vorbereiten. Nichts leichter als das: Wir haben unsere Trockenhosen und Kanuschuhe dabei, die wir zur Überfahrt auf dem Schlauchboot anziehen. Tatsächlich ist auch hier der Seegang noch beträchtlich und das Anlanden wird durch einen hin und her schwappenden Gürtel aus Eisbrocken am Ufer erschwert. Die zweite Fuhre muss eine Blitzlandung hinlegen und wir schaffen es nicht, Oyvind die Schwimmwesten zurück auf das Schlauchboot zu reichen. Da nicht sicher ist, dass wir hier auch wieder aufgenommen werden können, nehmen wir sie mit, um sie unterwegs irgendwo zwischen zu lagern. Vom Südufer der Bucht suchen wir bei mäßiger Steigung die Verbindung zwischen den Schneefeldern, die teilweise von Geröllfeldern unterbrochen werden, bis wir den Doddsbreen (Breen = Gletscher) erreichen. Der Himmel ist klar, die Sonne scheint, die Landschaft ist gewaltig. Rein optisch das schönste Wetter. Aber es weht ein eiskalter, stürmischer Wind. An einem Steinblock rasten wir, um die Schwimmwesten und unsere Trockenhosen zu deponieren. Ein Weilchen wird geschwatzt und geschnattert, bis ein tiefes, kehliges “Ssssoooo!” die Konversation unterbricht. Andre signalisiert unmißverständlich, dass er soweit wäre. Lachend setzen wir den Aufstieg fort, die Truppe hat verstanden. Vor uns unser Ziel, der Gipfel des Doddsfjellet. Rechts davon am oberen, südlichen Ende des Gletschers, liegt ein Sattel in der Bergkette. Von ihm hoffen wir, auf den Gipfel zu kommen. Aber der Hang hinauf ist sehr steil, Hansi steigt vor und prüft die Stabilität. Zu gefährlich, selbst wenn wir die Ski an den Rucksack nehmen. Abfellen, abfahren, rechts halten. Hinter einem felsigen Ausläufer des Doddsfjellet wechseln wir wieder in den Aufstiegsmodus und nähern uns dem Gipfel von Norden. Es ist steil, der Hang ist eisig und der stürmische Wind bringt uns öfter fast aus dem Gleichgewicht. Unbeeindruckt zieht Hansi von Kickkehre zu Kickkehre. Wir gelangen bis unter den felsigen Gipfelaufbau. Beim Abziehen der Felle müssen wir aufpassen, dass der Sturm sie uns nicht aus den Händen reißt. Aber die Mühen haben sich gelohnt, es folgt wieder eine Traumabfahrt im Steilgelände. Unbezahlbar dabei der Blick bis hinunter zur Bucht, wo unser Spielzeug-Schiffchen ankert. Von dort kommt per Funk auch gute Nachricht: Der Seegang hat sich soweit beruhigt, dass wir an der Landungsstelle wieder aufgenommen werden können. Wir sammeln die abgelegte Ausrüstung auf und gleiten hinunter. Am Ufer werden wir allerdings Zeuge, wie Oyvind mehrfach erfolglos versucht, anzulanden. Wir haben jetzt Ebbe. Zwar ist der Tidenhub hier nicht allzu hoch, aber er reicht aus, ein felsiges Riff in einiger Entfernung vom Strand knapp unter die Wasseroberfläche zu bringen. Keine Chance, das Schlauchboot kommt nicht drüber. Die Alternativen? Wir könnten versuchen, den Sommer hier zu überleben. Fürs Erste hätten wir zwei, drei Rentiere in Reichweite der Jagdbüchse. Mit dem einsetzenden Winter müssten wir versuchen, über das zugefrorene Meer die nächste Siedlung zu erreichen. Oder wir laufen jetzt auf die ruhige Nordseite der Bucht und lassen uns dort vom Schlauchboot abholen. Wir entscheiden uns für die gut zwei Kilometer lange Wanderung um die Selvågen. Die Sonne scheint, lässt Meer, Eis und Berge in den tollsten Farben leuchten, der Wind hält sich zurück. Genuss pur! Spannend wird es noch einmal, als wir den hinteren, zugefrorenen Teil der Bucht überqueren. Lange Spalten, in denen offenes Wasser steht, unterschiedliche Blauschattierungen des Eises, die auf seine unterschiedliche Stärke hindeuten, Pfützen auf der Oberfläche. Mit den Skistöcken prüfen wir das Eis und tasten uns vorsichtig hinüber, vertrauen auch auf die Lastverteilung durch die Skier. Auf der Nordseite stehen die Reste einer Jagdhütte. Das Dach fehlt, aber auf dem Kanonenofen steht sogar noch der Teekessel. Ole erwartet uns schon. Von einer Eisscholle gibt es einen komfortablen Zustieg in das Schlauchboot. Die See ist ruhig.
Noch am Nachmittag beginnt die lange Überfahrt Richtung Süden, die gegen Mitternacht im Grønfjorden endet. Am Morgen landen wir an dessen westlichem Ufer. Über weite Sanderflächen starten wir unsere letzte Skitour auf den Aldegondabreen, der rechts von den eindrucksvollen Steilwänden des Productustoppen begrenzt wird. Sechs Kilometer voraus unser Ziel, der Christensenfjella. Dessen Gipfel verschwindet immer wieder in den Wolken. Kurzer Aufschwung an der Gletscherzunge, mäßig steil geht es weiter. Obwohl uns von vorn ein zunehmend stärker werdender Wind entgegenweht, laufen wir nebeneinander und unterhalten uns. Am Ende des Gletschers erreichen wir eine Passhöhe. Das Nadelöhr wirkt wie ein Windkanal. Wir schützen uns mit Hardshell und Co. Ein kurzer Aufstieg nach rechts bringt uns etwas aus dem Sturm und an den Fuss des Gipfelhangs. Wir setzen die Harscheisen ein und nehmen den hart gefrorenen, steilen Untergrund in Angriff. Der Gipfel ist ein lang gezogener, überwechteter Bogen, auf dem wir uns nebeneinander aufreihen. Viele Wolken, der starke Wind schiebt sie hin und her, gibt uns wechselnde Aussichten auf die archaische Landschaft in alle Richtungen. Noch einmal Adrenalin bei der Abfahrt im Steilhang, unten geht es flott weiter. Die Gletscheroberfläche präsentiert sich breit und plan. Doch das Licht ist diffus, versteckt die Kontraste im weiß auf weiß. Das führt schließlich zu Connis Stunteinlage, in deren Genuss nur Tina, Petra und ich kommen. In voller Fahrt erwischt sie unfreiwillig einen Buckel, der sie wohl drei Meter in die Luft katapultiert, landet sauber und fällt erst danach vor Überraschung auf den Po. Leider war die Weitenmessung nicht in Betrieb, aber als Haltungsnote ziehe ich die 19,5!
Ein letzter Stop gilt am Ausgang des Grønfjorden der russischen Siedlung Barentsburg. 1932 als Bergarbeitersiedlung gegründet, befindet sich hier inzwischen auch eine Polarstation. Für uns ist es fast eine Zeitreise in die Vergangenheit. Verfallende Gebäude im Hafenbereich, eine große Lenin-Büste und eine überdimensionale Parole, die den Kommunismus als Ziel ausgibt, dominieren den ersten Eindruck. Aber es gibt auch ein modernes Kulturhaus mit Schwimmhalle und einige neue Wohnblocks, obwohl der Ort kaum fünfhundert Einwohner hat. Der Kohleabbau wird immer unrentabler.
“WAL!” Oyvinds Schrei holt in Sekunden alle auf Deck. Zunächst ist nichts zu sehen. Schon wieder abgetaucht. Angestrengt spähen wir in die angezeigte Richtung. Plötzlich wölbt sich ein dunkler Rücken aus dem Wasser und eine Fontäne steigt in die Luft. Das wiederholt sich zwei, drei Mal, dann taucht wie zum Gruß die mächtige Schwanzflosse auf und verschwindet wieder für die nächsten Minuten. Ein gewaltiges Tier! Was für ein Finale! Dass Alpine Welten das auch noch hingekriegt hat.
Als wir Longyearbyen verlassen, schneit es. In Frankfurt erwarten uns 33° C. Den Sommer kriegen wir schon irgendwie rum … 😉