Langtalereck Tourentage – Finale in Pfelders

Rund siebenhundert Höhenmeter sind es von Obergurgl zur Langtalereck Hütte, die ich am Nachmittag nach langer Anreise angehe. Traumwetter, nicht nur heute, auch die Vorhersage für die nächsten Tage ist vielversprechend. Dazu noch sinkende Lawinengefahr. Zunächst Aufstieg am Rand des Skigebietes, als ich die Piste verlasse, stellen sich Ruhe und Genuss ein. Die Schönwieshütte lasse ich rechts liegen, eine kurze Abfahrt und dann der finale Anstieg. Die Hütte erreiche ich, kurz bevor die Sonne hinter dem Schalfkogel verschwindet. Dessen gewaltiger Nordosthang liegt auf Grund der Lawinensituation der letzten Tage noch unberührt. Peter ist schon heute morgen angereist (kein Kunststück aus dem Zillertal) und hat den Weg zur Langtalereck Hütte über das Eiskögele und bis vor den Mittleren Seelenkogel genommen. Für zwei Nächte haben wir ein Zimmer, zum Wochenende wird es voll und wir werden umziehen müssen.
Für Skitourenverhältnisse im Frühjahr moderater Start am nächsten Morgen gegen sieben Uhr. Eine einsame Spur aus den Vortagen zieht sich in das Langtal hinein. Nomen est omen! Wir sind ganz allein, außer uns nur Sonne, blauer Himmel, Stille und die imposante Bergkulisse. In einer lang gezogenen Rechtskurve mit zunehmender Steilheit erreichen wir den Gletscher. An seinem oberen Rand thront eindrucksvoll die Hochwilde mit ihren beiden Gipfelkreuzen. Wir halten uns links und steigen in Spitzkehren bis zum Skidepot unter dem felsigen Gipfelaufbau des Südgipfels. Wunderschöne Ausblicke tief hinunter nach Pfelders und ins Lazinser Tal.

Dann folgen vierhundertfünfzig Höhenmeter steile Euphorie durch unberührte Hänge wieder hinunter an den Gletscherfuss. Dort ziehen wir die Felle auf und steigen diesmal auf der rechten Seite vorbei an gewaltigen Gletscherspalten hinauf zum Annakogeljoch. Hier treffen wir die ersten Tourengeher, die über den Gurgler Ferner herauf gekommen sind. Noch einige Höhenmeter bis zum Skidepot unterhalb des Nordgipfels. Wir legen die Klettergurte an, befestigen eine Bandschlinge mit Karabiner. Die Drahtversicherungen hinauf zum Gipfel sind teilweise eingeschneit, es gibt ein, zwei luftige Stellen, die frei, aber in gutem Stapfschnee gestiegen werden müssen. Oben an dem riesigen Gipfelkreuz genießen wir den ungehinderten Panoramablick. Am Schalfkogel erkennen wir die ersten Zick-Zack-Muster, das sind Lukas und Heidi im Aufstieg, mit denen wir auf der Hütte das Zimmer teilen. Nach dem vorsichtigen Abstieg zu den Skiern folgt die zweite Abfahrts-Euphorie des Tages. Nach der Steilheit gleiten wir lang aus dem Tal hinaus und erreichen nach kurzem Gegenanstieg das verdiente Cola-Weizen.
Das „Spurteam“ am Schalfkogel hatte ebenfalls eine Traumabfahrt, die Bedingungen sind super. Letztes Jahr auf unserer Ötztaler Runde haben wir den Gipfel des 3.537 m hohen Berges rechts liegen lassen und sind vom Schalfkogeljoch auf den gleichnamigen Gletscher abgestiegen. Diesmal ist er das Ziel des zweiten Tages. Same procedure in the morning … Um sieben Uhr rattern wir die zweihundert ruppigen Höhenmeter hinunter an den Beginn der Schlucht der Gurgler Ache. Der folgende steile und enge Aufstieg bringt uns schnell auf Betriebstemperatur. Endlich hoch über uns die Hängebrücke zum Ramolhaus, dann öffnet sich das Tal mit dem weiten Gurgler Ferner. Wir halten uns auf der westlichen Seite und steigen weiter auf, bis wir im Hang die Spitzkehren von Lukas und Heidi erkennen. Jetzt wird es richtig steil.

Im unteren Teil mit Felsen versetzt, erreicht die Neigung bis zu 42 Grad. Die Spur ist erkennbar, aber zugeweht, so dass Peter, der voraus ist, spuren muss. Vom Gletscher zum Gipfel sind es noch gute achthundert Höhenmeter. Die Aufstiegsroute ist top gelegt. Wieder sind wir allein, erst weit unten am Beginn des Gletschers entdecken wir die folgenden Tourengeher. Viele Kickkehren erfordern unsere Konzentration, ein Ausrutscher würde viele Höhenmeter kosten. Nach knapp der Hälfte queren wir weit nach rechts, erreichen weite, hindernislose Hänge. In großzügigen Spitzkehren nähern wir uns dem Kamm, der zum Gipfel führt. Hier ist die Oberfläche hart und windgepresst. Skidepot, die letzten Höhenmeter vorsichtshalber mit Steigeisen zum Gipfel. Grandios, atemberaubend, wunderschön – es gibt zu wenig Worte für das Gipfelglück bei solch einem Wetter. So läuft man Gefahr, sich oft zu wiederholen. Unsere Augen folgen den Gipfeln der Ötztaler Runde: Similaun, Weißkugel, Fluchtkogel, Wildspitze. Im Südosten die Hochwilde, im Nordosten die Berge um das Timmelsjoch. Vorfreude auf die Abfahrt. Die beginnt allerdings mit einem großen Schreck für mich. Nach wenigen Metern auf dem eisigen Untergrund löst sich mein rechter Ski, ich stürze und beginne Richtung Diemferner zu rutschen. Zum Glück ist es noch nicht zu steil und ich kriege den Ski zu fassen. Gefühlt dauert es viel zu lange, bis ich zum Liegen komme. Vorsichtig schnalle ich wieder an, verriegele die Bindung a la Aufstieg und gleite zu Peter, der schon auf der anderen Seite des Kamms ist. An einer sicheren Stelle überprüfe ich die Bindung und die Inserts an den Schuhen. Wahrscheinlich war Eis in die Vertiefungen gekommen und die Pins konnten nicht richtig einrasten. Jetzt folgt eine lange Genussabfahrt im Steilgelände. Wir haben die Wahl und lassen es laufen. Im steilsten Stück erwischt es mich noch einmal, als mein linker Ski verdeckten Steinkontakt bekommt und es mich abrupt umreißt. Ein voller Überschlag, dann sitze ich wie ein Schneemann im Hang. „Soll ich ein Foto machen?“, lautet Peters mitfühlender Kommentar. Leider habe ich gerade keine anderen Freunde dabei. Also weiter. Unten auf dem Gletscher staube ich mich erst mal ab. Das war eine steile (halbe) Meile. Es ist noch nicht einmal zwölf Uhr. Peter hat noch Energie und will hinüber zum Hochwildehaus. Ich halte es mir zunächst offen und folge dann doch nach einer Verschnaufpause. Schlussendlich lassen wir das Hochwildehaus links liegen, steigen statt dessen immer weiter, vorbei am Annakogel bis hinauf zum Joch unterhalb der Hochwilde. Nochmal können wir die traumhafte Abfahrt auf dem Langtalferner genießen. Als wir die Hütte erreichen, haben wir zweitausend Höhenmeter im Aufstieg in den Beinen.
Es ist Freitag nachmittag und auf der Langtalereck hat sich der Wochenendtrubel eingestellt. Die Hütte ist übervoll, das Zimmer haben wir bereits am Morgen geräumt, für das Lager haben wir eine Zusage. Fast kommt es besser: Wir verbringen die Nacht auf Matratzen auf dem Gang im zweiten Stock. Keine Platzprobleme, der Verkehr hält sich in Grenzen. Allerdings schaltet sich in der Nacht die Notbeleuchtung ein und es wird so hell wie vor den Xenon-Scheinwerfern eines Audi Quattro.
Auch diese Nacht geht vorüber. Aufbruch zur Standardzeit der letzten Tage. Gleich in Spitzkehren den Steilhang hinter der Hütte nach oben. Dort in einer ewigen Querung den Hang über Vordere und Hintere Ackerlen entlang, bis wir links hinauf zum Übergang auf den Wasserfallferner steigen. Noch eine langgezogene Kuppe dann taucht der Gipfelaufbau des Hinteren Seelenkogel auf. Auf diesen Berg will ich schon, seit ich vor Jahren das erste Mal in Pfelders war und den beeindruckenden Riesen von unten bewundert habe. Hier oben tarnt er sich als steiler Hügel, der aus dem Gletscher ragt. Umso eindrucksvoller ist der Hintere Seelenkogel, wenn man seinen Gipfel erreicht. Atemberaubender Tiefblick nach Pfelders und die Texelgruppe. Hier oben treffen wir eine Entscheidung. Die Tiefe lockt.

Statt über Wasserfallferner und Rotmoostal zurück nach Obergurgl zu kehren, nehmen wir die Abfahrt über mehr als 1.800 Höhenmeter hinunter nach Pfelders in Angriff. Freilich mit der Konsequenz am nächsten Tag wieder aufsteigen zu müssen. Es lohnt sich jeder Meter! Mal pulvrig, mal firnig geht es über steile Hänge und enge Rinnen. Erst im unteren Teil wird der Schnee weich. In Zeppichl finden wir bei Daniela im Dicktnerhof meine Wunschunterkunft. Ruhe, Platz und Ambiente – welch ein Kontrast zur überfüllten Berghütte. Tiefenentspannung zwischen Gasthof Zeppichl, Dusche, Balkon und Bett.
Für mich alles sehr notwendig. Der nächste Tag wird hart. Bereits vor sieben Uhr stehen wir am Schlepplifthang und schauen zu, wie die Sonne den riesigen Berghang herab gleitet. Es gibt viele apere Flecken und eine Aufstiegsroute ist nicht ohne weiteres zu entdecken. Oberhalb der Bergstation finden wir eine Aufstiegsspur und folgen ihr Richtung Schneidalm. Schon nach wenigen Metern bricht das untere Segment meines Stockes und ich sehe, wie sich das Stück mit dem Stockteller auf dem harten Hang tanzend nach unten verabschiedet. Sch…! Ab jetzt Handwechsel an jeder Spitzkehre.

In Höhe der Schneidalm wird es kurz etwas flacher. Danach kickkehren wir anhaltend steil in etwa auf dem Sommerweg Richtung Zwickauer Hütte. Obwohl die Sonne den Südhang bearbeitet, setzen wir die Harscheisen ein. Bloß nicht abrutschen. Peter marschiert unbeeindruckt nach oben, mir geht zunehmend die Puste aus. Längere Pause im flachen Abschnitt unterhalb der geschlossenen Hütte. Dann noch den Steilhang auf den Sattel hinter der Zwickauer. Waagerechte Querung hinüber zum Planferner, wo wir die Abfahrtsroute von gestern kreuzen. Schließlich noch ein moderater Aufstieg zum Rotmoosjoch. Pause in der Sonne und ein Abschiedsblick ins Passeiertal. Der Übergang ins Rotmoostal ist kurz, aber steil und schneefrei. Wir schnallen die Ski an den Rucksack. Drüben erwarten uns noch einmal steile Gletscherhänge und ein langes Ausgleiten durch das Rotmoostal bis zur Schönwieshütte. Hier auf der Terrasse beenden wir bei viel Flüssigkeit unsere traumhaft schönen Langtalereck-Tourentage.