Rocca-Bella-Vista

Das Wochenende beginnt mit einem Bier im Hotel Grischuna in Bivio. Meine jüngste Schwester Katja nimmt hier seit einer Woche am Refresherkurs Höhenmedizin teil. Morgen ist noch eine kurze Abschlusstour, bei der ich mich anschließen kann. Die Nacht verbringe ich im Auto recht komfortabel auf dem Wohnmobilstellplatz am Ortsausgang von Bivio. Start am nächsten Morgen um acht Uhr mit dem Schlepplift, der extra für uns geöffnet hat. In zwei Etappen bringt er uns bis auf 2.560 m Höhe. Wir sind zu zehnt. Unter Leitung von Hans, Bergführer aus dem Berchtesgadener Land, soll es auf den Roccabella gehen. Um mich herum acht Ärzte (incl. Katja), selten habe ich mich so abgesichert gefühlt. Von der Bergstation beginnen wir mit einer kurzen Querung und einer langen Abfahrt über weite, offene Hänge an den Fuß des Roccabella. Gleich mal ein kleines Highlight bei bestem Wetter und gutem Schnee. Auffellen, dann beginnt Hans im typischen Bergführer-Schritt den rund sechshundert Höhenmeter langen Aufstieg. Das Gelände ist gestuft, mal laufen wir Spitzkehren, mal geht es direkter hinauf. Der Gipfelhang ist etwas steiler, der Untergrund noch ziemlich hart. Oben gibt es weite Ausblicke. Zum Greifen nah der Julierpass, tief unter uns Bivio, im Westen Piz Turba und die Bergkette, die uns vom Averstal mit dem Jufer Rhein trennt. Ein sehr schönes, weitläufiges Tourengebiet. Abfahrt auf der Nordseite. Über steile Hänge, in denen wir noch Pulverschnee finden, und einer langgezogenen Rinne mit ruppigem Untergrund schwingen wir nach unten. Der Rückblick von Bivio offenbart, dass der Roccabella seinen Namen zu Recht trägt: Schöner Felsen.

Während Katja noch an der Abschlussveranstaltung des Kurses teilnimmt, mache ich mich schon auf den Weg über den Julierpass. An jeder Parkbucht stehen Autos von Skitourengehern. Hier gibt es unzählige Möglichkeiten. Über Sankt Moritz und Pontresina geht es zur Talstation der Diavolezza. Als Katja nachkommt, nehmen wir die Gondel hinauf zum Berghaus, wo wir für eine Nacht einchecken. Zimmer mit Ausblick. Wir schauen genau auf Piz Bernina und Biancograt. Es ist ein sonniger Nachmittag, den wir tiefenentspannt auf der Terrasse mit Blick auf den Festsaal der Alpen verbringen. Die Nacht wird eh kurz, durch die Umstellung auf Sommerzeit fehlt noch eine Stunde. Sechs Uhr Frühstück. Eine knappe Stunde später rutschen wir auf pickelhartem Untergrund den Steilhang hinunter auf den Persgletscher. Während wir die Felle aufziehen, erreichen die ersten Sonnenstrahlen die Gipfel von Piz Bernina, Piz Palü und ihren Gefährten. Hier unten ist es noch kalt und windig. Wir starten warm eingepackt mit dicken Handschuhen. Quer über den Persgletscher an den Fuß der Gamsfreiheit. Vor dem folgenden Steilhang setzen wir die Harscheisen ein. In der Hälfte des Aufstieges erreichen wir die Schattengrenze. Gleich wird es warm und wir können Kleidung ablegen. Oben überqueren wir einen Rücken, bevor es etwas flacher wird. Hier haben wir erstmals einen Einblick ins Buuch, den wilden Gletscherbruch unter dem Piz Bernina. Wir sind etwas unschlüssig, wie wir weiter steigen. Drüben im Buuch sind Spuren zu erkennen. Es muss also einen Weg hindurch geben. Allerdings können wir den Steilhang direkt unter uns nicht einsehen und wissen nicht, ob man Abklettern muss oder mit den Skiern hinunter fahren kann, um hinüber zu kommen. Auf jeden Fall liegt der Hang noch im Schatten und ist hart gefroren. Über uns der Fortezzagrat. Am Einstieg sehen wir eine sechsköpfige Gruppe. Wir beschließen, bis da hinauf zu Spitzkehren. Angekommen sehen wir, dass es eine steile Einfahrt in den Gletscher unter uns gibt. Aber wenn wir jetzt schon mal da sind … Wir rüsten um auf Klettern.

Steigeisen und Klettergurt anlegen, Skier und Stöcke an den Rucksack, Einbinden ins Seil. Katja steigt vor. Es wird eine luftige Angelegenheit. Das Klettern selbst ist nicht zu schwer. Trittsicherheit und Schwindelfreiheit sind gefragt, man klettert fast die ganze Zeit im Absturzgelände. Im unteren Teil finden wir wenig Sicherungspunkte und arbeiten viel mit Bandschlingensicherung an geeigneten Felsvorsprüngen. Irgendwann reißt ein dumpfes Poltern unseren Blick nach rechts. Über uns bildet der Gletscher einen Trichter, dessen unteres Ende in das berühmte Loch mündet. Eine sehr steile Rinne, durch die wir später abfahren wollen. Und genau rechts darüber ist ein gewaltiger Brocken aus dem überhängenden Gletscher gebrochen, der sich in seine Bestandteile auflösend nach unten rauscht. Die Bruchstücke fliegen zum Teil bis in die Rinne. Ehrfürchtig bestaunen wir das Schauspiel. Ohne jede Vorwarnung hat uns der Berg gezeigt, dass hier nichts kalkulierbar ist. Der Grat wird steiler, teilweise geht es senkrecht hinauf. Hier hat es mehr Sicherungspunkte, gelbe Punkte und Pfeile weisen den Weg. Kurz vor dem Ausstieg erwartet uns die kniffligste Stelle. Katja muss zwei, drei Mal ansetzen und meistert sie schließlich souverän. Sauber geführt den ganzen Grat! Super! Oben auf dem Gletscher angekommen, genießen wir bei einer Rast eine kleine Stärkung und den unbeschreiblich schönen Ausblick. Wir sind jetzt unterhalb der Bellavista-Terrasse, schauen auf die Pfeiler des Piz Palü zu unserer Linken und Piz Bernina mit Biancograt zu unserer Rechten. Direkt vor uns die weiße Haube des Bellavista Mittelgipfels. Dorthin steigen wir jetzt auf. Von oben kommen uns einige Skifahrer, die den Piz Palü überschritten haben, entgegen. Dann sind wir allein und bald darauf auf dem Gipfel. 3.888 m. Glückwunsch! Eine tolle Tour und das Finale kommt erst noch. Trotz des kalten Windes bleiben wir eine Weile. Bellavista – auch dieser Gipfel trägt seinen Namen nicht umsonst. Schöne Aussicht in alle Richtungen. Viel Blankeis drüben am Piz Bernina. Auch der Hang zur Marco e Rosa Hütte glänzt schwarz. Zweitausend Höhenmeter unter uns liegt die Bahnstation Morteratsch. Die nehmen wir jetzt unter unsere Skier. Vom Gipfel weg ist der Schnee hart und windverblasen. Verdeckte Gletscherspalten fordern unsere ständige Aufmerksamkeit. Dann die Einfahrt durch den Trichter ins Loch. Der Tiefblick ist atemberaubend. Links und rechts gewaltige Gletscherbrüche. Viele Spuren im Hang machen die Abfahrt unruhig. Immer wieder umspringen, sauber draufstehen, laufen lassen. Es kostet Kraft, macht aber auch viel Spaß. Weiter unten gilt es, die großen Gletscherspalten zu umfahren. Schließlich treffen wir auf die markierte Piste von der Diavolezza und können es entspannt bis zur Bahnstation Morteratsch laufen lassen. Hier beschließen wir auf der Terrasse des Restaurants mit Blick auf Bellavista und unsere Abfahrtsroute unsere Traumtour. Sehr schön war es!