Vom Reschensee ins Passeiertal

Es ist später Vormittag. Schon seit einigen Stunden sitzen wir etwas unschlüssig in unserem Ford Nugget. Der starke Wind, der am Fahrzeug rüttelt, hat uns heute früh noch in den dunklen Morgenstunden bei gefühlten -20 Grad gezwungen, das Aufstelldach einzufahren. Wir stehen an der Talstation des Skigebietes Schöneben am Reschensee. Wie durch einen Windkanal blasen die starken Böen aus Richtung Österreich durch das breite Tal. Weiter oben kann es unmöglich besser aussehen. Aber der Himmel ist blau und die Sonne lacht herab. Ohne große Hoffnungen beschließen wir, wenigstens hinauf nach Rojen zu fahren. Oben am Alpenhof Bergkristall das Wunder – kein Lüftchen regt sich. Der Sturm kanalisiert sich tatsächlich im Tal.

Äußerer Nockenkopf

Kurz entschlossen machen wir uns fertig. Direkt neben dem Auto können wir starten. Nach wenigen Metern überqueren wir den Bach im tiefen Taleinschnitt, danach geht es in kurzen Spitzkehren steil nach oben. Neben einem Almschuppen genießen wir den Rückblick ins Tal und hinüber zu 10er-, 11er- und Seebodenspitze. Anschließend steigen wir in wechselnder Steilheit hinauf in einen flacheren Boden. Vor uns baut sich der steile Gipfelhang des Äußeren Nockenkopfes auf. Das Gipfelkreuz ist schon lange in Sicht. Oben haben wir einen herrlichen Tiefblick zum Reschensee. Aber hier pfeift auch wieder der Wind. Wir ziehen uns etwas in den Hang zurück und halten eine ausgiebige Brotzeit in der Sonne, bevor wir die Abfahrt zurück zum Gasthaus genießen.

Grionkopf, 2.896 m

Einen Tag später hat der Wind sich beruhigt. Wir starten bei schönstem Wetter vom Parkplatz am Weiler Rojen zunächst auf gespurtem Ski- und Wanderweg in das schattige Tal hinein. Es ist schneidend kalt. Als das Tal sich bei einigen Almhütten gabelt, erreichen wir endlich die Sonne. Wir halten uns rechts in das Griontal. Eine Engstelle ist hart gefroren und etwas knifflig im schrägen Steilhang. Danach öffnet sich das Gelände. Schönste Skihänge liegen voraus. Mal flacher, mal steiler ziehen wir nach oben bis unter die Fallungscharte. Hier können wir zwei Skibergsteiger beobachten, die die steile Rinne rechts vom Aufstiegsweg abfahren. Ansonsten sind wir allein. Ab jetzt geht es rechts steil nach oben. Die Querung zum breiten Gipfelhang ist hart vereist, wir setzen die Harscheisen ein. Das Gipfelkreuz steht auf einer geräumigen Kuppe, die Aussicht ist gewaltig. Ortlergruppe, Sesvenna, Piz Linard, Piz Buin, … Wir blicken ins Unterengadin, direkt unter uns das Val Uina, darüber erkennen wir Sent und links davon das Skigebiet von Scuol. Auch wenn es trotz der Sonne kalt und etwas windig ist, verweilen wir lang. Dann gleiten wir hinüber zu der Abfahrtsrinne. „Da fahr ich nicht runter!“, ist Petras erster Kommentar beim Blick in die Tiefe. Nun, schließlich sind wir doch gefahren und hatten viel Spaß dabei. Lediglich auf die Vermeidung von Steinkontakt mussten wir achten, es liegt stellenweise wenig Schnee. Die Hänge weiter unten sind genial, es gibt viele Möglichkeiten, die eigene Spur zu ziehen.

Chavalatsch, 2.764 m

Weit oberhalb von Stilfs liegt der Valatscheshof. Er wird für uns der Ausgangspunkt unserer Skitour auf den Chavalatsch. Erst vor wenigen Monaten haben wir den östlichsten Punkt der Schweiz zu Fuß aus dem Val Müstair bestiegen. Jetzt kommen wir von der Südtiroler Seite. Wir können direkt anschnallen und kommen auf dem steilen Steig gleich auf Betriebstemperatur. Schon nach wenigen Höhenmetern gelangen wir in offenes Gelände, wo der Schnee uns verlässt. Wir stecken die Ski an die Rucksäcke und stapfen mühsam durch ein dichter werdendes Waldstück nach oben. Endlich, kurz oberhalb der Baumgrenze, legt sich der Hang zurück. Weit voraus erkennen wir die Gebäude der Unteren Stilfser Alm, bis dahin eine geschlossene Schneedecke. Als wir die Alm passiert haben, sehen wir, dass die eigentliche Aufstiegsroute zum Chavalatsch nahezu schneefrei ist. Es ist halt ein schneearmer Winter dieses Jahr. Wir halten uns links Richtung La Scharta (Stilfser Schartl) und beschließen, soweit aufzusteigen, wie es möglich ist. Auf einer aussichtsreichen Geländekuppe rasten wir. Der Ortler scheint zum Greifen nah. In der anderen Richtung erkennen wir die Zollwachthütte auf dem Gipfel des Chavalatsch. Noch gute 400 Höhenmeter. Petra lässt es gut sein und fährt zur Alm ab. Ich gebe Gas und spitzkehre hinauf zum Stilfser Schartl, dem Übergang ins Val Müstair. Dann noch einige Höhenmeter bis der breite Gipfelgrat zu abgeblasen ist. Ich mache Skidepot und steige zu Fuß hinauf. Oben überwältigt mich der grandiose Ausblick, wie schon im vergangenen September. Der Chavalatsch ist ein traumhafter Aussichtsberg. Traumhaft wird auch die Abfahrt über die weiten Hänge bis zur Unteren Stilfser Alm, wo wir lange in der Sonne rasten. Nach der Abfahrt bis zur Baumgrenze kommen die Skier wieder an den Rucksack und wir marschieren hinunter in den Frühling.

Schnalstal-Intermezzo: Netflix Big Budget

Auf unserer Weiterreise peilen wir den gut ausgestatteten WoMo-Stellplatz in Kurzras an. Wir finden ihn vollkommen zugestellt mit Trucks, drehen eine Ehrenrunde und biegen schließlich auf den ziemlich vollen Parkplatz darüber ein. Bei einem Snowboarder, der gerade von der Piste zu seinem WoMo zurück kommt, fragen wir nach, was hier los ist. Ja, Netflix dreht hier gerade einen Big Budget Film und hat den Stellplatz und Teile des Skigebietes auf Wochen gemietet. Um die sechshundert Leute springen hier herum. Das Gute ist: Wir können die Facilities kostenfrei nutzen. Nur Strom hat es nicht und den bräuchten wir langsam nach drei eiskalten Tagen und Nächten. Zum Glück finden wir einen Parkplatz mit optimaler Sonneneinstrahlung. Trotz ordentlichen Minusgraden und starkem Wind ist der Himmel ganztägig blau. Unsere portable Solaranlage hinter der Windschutzscheibe produziert ausreichend Strom für unseren Bedarf. Unsere geplante Skitour das Pfossental hinauf zum Eisjöchl können wir vergessen. Es hat einfach zu wenig Schnee. Wir machen das Beste daraus und laufen auf der Piste hinauf zur Bellavista, wo wir windgeschützt und warm die Sonne genießen.

Pfelders – wie heimkommen

Das Pfelderer Tal hat es uns schon seit einigen Jahren irgendwie besonders angetan. Ob Sommer oder Winter, wir kommen immer wieder gern hierher. Ob bei Daniela am Dicktnerhof oder bei Luis und Karl am Campingplatz, hier erwarten uns echte Gastfreundschaft, die Landschaft zwischen Alpenhauptkamm und Texelgruppe ist gewaltig, die Berg- und Almhütten locken mit kulinarischen Highlights vor prächtiger Kulisse, das Skigebiet ist klein, fein und anspruchsvoll. Unsere Tour, die einen Großteil davon verbindet, beginnt in Zeppichl. Auf dem frisch präparierten Ski- und Wanderweg schlurfen wir gemütlich in den Talschluss hinein. Vorbei am Lazinser Hof treffen wir wenig später Daniela und Alex auf ihrem Morgenspaziergang zu Pferd. In der Lazinser Alm sind wir die ersten Gäste. Eine kurze Pause mit heißem Kakao in der Sonne, dann laufen wir ins Lazinser Tal hinein. Weit voraus erkennen wir das Spronser Joch, den Übergang nach Meran. Bis zur Bockhütte bleiben wir im Tal, dann geht es schräg den hart gefrorenen steilen Hang hinauf zur Zielhütte. Hier rasten wir wieder mit Blick auf Lodner und Hohe Weiße. Mit dem finalen Anstieg erreichen wir das Faltschnaljöchl. Umrüsten auf Abfahrt. Es gibt viele Spuren, der letzte Neuschnee ist wohl schon eine Weile her. Aber wir finden genügend unberührte Hänge, müssen im Bruchharsch aber immer wieder aufmerksam bleiben. Zum flachen Talausgang hin nehmen wir ordentlich Schwung mit und gleiten bis kurz vor die Faltschnalalm. Wenig später nehmen wir die Ski an den Rucksack und steigen durch das steile Waldstück hinab, bis wir auf den Skiweg treffen, der hinauf zum Grünboden im Skigebiet führt. Hier schnallen wir wieder an und sind wenig später zurück in Zeppichl.

Ratschinger Weiße, 2.822 m

Auch die Ratschinger Weiße ist ein Gipfel, den wir zu Fuß aus dem Ratschinger Tal schon einmal bestiegen haben. Diesmal fahren wir mit dem Auto die nahezu verlassene Strasse zum Timmelsjoch bis kurz vor die Schneebrücke hinauf. Rechts führt ein Forstweg in das Tal hinein. Zum Glück hat er eine geschlossene Schneedecke, so dass wir gleich anschnallen können. Bis zur Unteren Gostalm geht es mit moderater Steigung aufwärts. Die weite Fläche hier ist weiß, wir aber müssen nach links. Der bewaldete Steilhang dort ist nahezu schneefrei. Da müssen wir hinauf. Skier an den Rucksack und aufs Geratewohl nach oben. Es wird mühsam. Immer wieder bleiben wir mit den Skiern im dichter werdenden Wald hängen. Eine bewachsene felsige Stufe kraxle ich auf den Fußspitzen gerade so hoch. Bloß nicht mit den Skiern verhaken. Nicht empfehlenswert. Petra steigt nach links ab. Die breite Rinne dort ist frei. Ich habe inzwischen offenes Gelände erreicht und warte. Endlich klicken wieder die Bindungen. Welch ein Kontrast! Weite, gestufte Hänge erwarten uns. Am Sandjoch erreichen wir den Übergang ins Ridnauntal. Noch etwa zweihundert Höhenmeter bis zum Skidepot, dann in einer kurzen Kletterpartie hinauf auf den lang gezogenen Grat, der zum Gipfelkreuz führt. Traumhafter Ausblick. In der Ferne wachsen die Gipfel der Dolomiten aus einer dichten Wolkendecke, davor das Ratschingstal und der Jaufenpass. Rechts davon geht der Blick bis ins Pfelderer Tal, das durch Hochwilde, Hohe Weiße und Lodner begrenzt wird. Tiefblick in die Aufstiegsroute, darüber erkennen wir das Timmelsjoch. Die Rückfahrt zum Sandjoch wird zunächst etwas ruppig. Schon nach wenigen Metern löst sich mein rechter Ski, ich kriege ihn rechtzeitig zu fassen. Danach haben wir auf den weiten Hängen die „Qual“ der Wahl, es gibt viele Varianten und wir können es laufen lassen. Allerdings mit der Konsequenz, dass wir in unserer Euphorie zu weit nach links kommen. An der Baumgrenze angelangt, müssen wir feststellen, dass unter uns ein Steilabbruch lauert. Mühsam steigen wir zu Fuß teils bis zu den Oberschenkeln im jetzt weichen Schnee versinkend wieder ein Stück, queren ein tiefe Rinne, einen lang gezogenen Rücken, bis wir endlich zu Fuß im schneefreien Gelände zur Unteren Gostalm absteigen können. Die Abfahrt über den Forstweg beendet eine tolle, abwechslungsreiche Tour!