Die Erfindung der Kunststoffmatten durch Hans Renner im Jahr 1954 machte das Skispringen zu einer Ganzjahressportart, wobei das Training und die Wettkämpfe in der schneefreien Zeit von Kleinschanzen bis hin zu Normalschanzen in der Hauptsache der Vorbereitung auf die Wintersaison dienten. Eine neue Dimension wurde im Jahr 1979 durch die erstmalige Belegung einer Großschanze mit Kunststoffmatten im Kanzlersgrund bei Oberhof eingeleitet. Auf Grund des damals durchaus ungewissen Ausgangs dieses Projektes erfolgten die Arbeiten möglichst ohne öffentliches Interesse zu wecken. Insbesondere die Einweihung sollte unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfinden. Hierzu wurden am 5. August 1979 jeweils zwei Sportler von den vier Wintersportclubs SC Motor Zella-Mehlis, ASK Vorwärts Oberhof, Dynamo Klingenthal und Traktor Oberwiesenthal in Zella-Mehlis zusammen gezogen. Alles coole Jungs, sichere Skispringer, von denen bekannt war, dass sie sich bei Mutproben der verschiedensten Art nicht hinten an stellten. Klar war allerdings von Anfang an, dass wir uns vom einheimischen Sportclub das Recht der ersten Nacht, also auf den ersten Sprung nicht nehmen lassen. Bereits im Morgengrauen des nächsten Tages ging es im Kleinbus in den Kanzlersgrund. Gegen fünf Uhr trafen wir dort auf bestes Wetter und geschätzte zweitausend Zuschauer auf den Rängen, die sich das Spektakel nicht entgehen lassen wollten. Soviel zur Geheimhaltung, der Buschfunk hatte offensichtlich eine beachtliche Reichweite ☺.
Die große Unbekannte für uns war damals der mit Matten belegte Anlauf. Das erste Ziel für einen Skispringer ist es, den Schanzentisch zu erreichen. Und für den weiteren Verlauf des Sprunges hilft es ungemein, wenn die Skier dabei in Fahrtrichtung zeigen. Frisch verlegte Kunststoffmatten bieten kaum Führung, wer bei zunehmender Geschwindigkeit aus Angst mit seinem Körperschwerpunkt nach hinten ausweicht, wird vom Pilot zum Passagier und erlebt, wie die zweieinhalb Meter langen Sprungski ein Eigenleben entwickeln, dass nicht mehr zu kontrollieren ist. Erst durch etliche Sprünge werden die Matten so komprimiert, dass eine bleibende Anlaufspur liegt, die eine gewisse Führung gibt. Allerdings noch lange nicht in der Qualität der Keramikspuren, die heute die Ski im Anlauf sicher in der Richtung halten. Die Anlaufgeschwindigkeiten einer Großschanze wurden bis dahin auf Kunststoffmatten nicht erreicht, insofern war bei Fehlversuchen auch mit ernsteren Konsequenzen zu rechnen. Als moralische Präventivmaßnahme erhielten wir alle dicke, weiße Strampelanzüge aus Frottee, die wir unter den Sprunganzügen trugen. Im Falle eines Sturzes sollten sie wenigstens Verbrennungen durch die hohe Reibungsenergie verhindern. Die zweite, wesentlich wichtigere Maßnahme war, dass man Spurmatten entwickelte, die im Anlauf hintereinander gelegt durch ihr Profil eine, wenn auch nicht sehr tiefe, Spur bildeten.
Vor dem ersten Sprung eine Abfahrt auf dem frisch verlegten Aufsprunghang, wobei sich bestätigte, wie schwer es ist, die Skier auf dem weichen Untergrund sauber parallel zu halten und dabei noch geradeaus zu fahren. Kurz vor sechs Uhr morgens war es dann soweit. Keine Sitzstart vom Startbalken, auch den gab es noch nicht. Die Skier wurden in der Luke angeschnallt, ein Bein dann hoch in den Anlauf gestellt. Überall Leute, unten im Gegenhang die Zuschauer, um mich meine Kameraden, an der Schanze verteilt Trainer, Videoleute, Funktionäre … War schon eine besondere Stimmung irgendwie. Freizeichen vom Trainer, mit dem aufgestellten Bein nach oben drücken, in den Anlauf springen, Anfahrtshaltung einnehmen und ab ging die Lutzi. Nach ein paar Metern war es schon fast normal. Die Skier schwammen etwas, aber alles innerhalb der Spurmatten. Aus dem Radius hin zum Schanzentisch zog es nicht ganz so ab, auch normal. Bei einem frisch gewässerten Anlauf blieb ein Teil des ablaufenden Wassers in den Matten auf dem flacheren Schanzentisch hängen und wirkte etwas bremsend. Etwas Abhilfe schaffte das Auskehren des Anlaufs ab dem Radius in Sprungrichtung mit einem Straßenbesen. Die ersten ein, zwei Springer haben das Restwasser dann „glatt“ gefahren und es lief normal. Deshalb war das „Spurfahren“ kein Job, um den man sich gerissen hat. Aber diesmal war es etwas anderes. Aufpassen, dass mich die leichte Bremswirkung nicht auf die Zehen schiebt. Dass provoziert gern einen zu frühen Absprung. Und dann ging’s schon hinaus in die gesunde Luft des Thüringer Waldes, auf der ich sicher ins Tal segele. Unten wartete ich auf meine Mitstreiter. Alle drängte es gleich wieder nach oben. Voller Euphorie freuten wir uns auf weite Flüge jetzt auch ohne Schnee. Und wieder einmal war klar: Skispringen ist der coolste Sport der Welt!